hat die Moderne da einige Einwände erhoben (wie ist es mit dem Unbewussten?), doch
irgendwie können wir das ja auf einer natürlichen Ebene ganz gut nachvollziehen. Denn
würde der Körper über uns herrschen, wären wir wahrscheinlich alle nicht hier. Der Körper
allein würde auch nicht zum Arzt gehen, da braucht es schon eine gewisse Vernunft. (Hier
drängt sich die Frage des Todes auf, dazu aber später.)
Sehr wichtig für das Verständnis der Geschichte der Philosophie ist dann das, was
Aristoteles über den νοῦς sagt. Einschlägig dafür ist das Buch XII der Vorlesungen über
die Metaphysik. Der νοῦς, und das ist auch für Plotin wichtig, wird als eine Tätigkeit
aufgefasst, eine ἐνέργεια. Diese Tätigkeit wiederum ist Ursprung, Anfang, principium, auf
Griechisch: ἀρχή. Und zwar ἀρχή von Himmel und Natur, wie Aristoteles sagt, d.h. von
allem. Nun denkt aber Aristoteles, dass auch der Mensch νοῦς hat. Daher wird das Wort
in jenen Passagen von einigen auch schlicht mit Vernunft und nicht mit Geist übersetzt.
Doch insofern wir auf unvollkommene Weise diese Tätigkeit besitzen, wir müssen z.B.
schlafen oder können manchmal nicht recht klar denken, wenn besoffen, ist der νοῦς als
solcher - wie schon Anaxagoras sagt - selbständig und unendlich.
Die Tätigkeit des νοῦς ist für Aristoteles Lust, ja sogar höchste Lust. Wie sollte das auch
nicht so sein? Für den Philosophen ist das Denken höchste Lust, vor allem wenn es
gänzlich ungestört, ganz rein vor sich gehen kann. Das alles aber ist bei dem nicht-
menschlichen νοῦς so rein und hoch und groß, dass Aristoteles schlechthin den Geist als
das θεῖον, das Göttliche, oder als den θεός, den Gott, bezeichnet. Dieses Göttliche
besteht also in reiner, unvermischter Tätigkeit, ἐνέργεια. Das Göttliche ist reine
Wirklichkeit, es gibt keine offene Möglichkeit mehr in ihm, das wäre ihm nicht gemäß.
Aristoteles kann auch sagen, er ist bestes und ewiges Leben, ja er nennt den Gott so
sogar bestes und ewiges Lebewesen, eine sehr seltsame Bezeichnung, die aber nur so zu
verstehen ist, dass das Göttliche eben Tätigkeit oder Wirklichkeit ist. Tätigkeit und
Wirklichkeit sind aber, wenn es um das Höchste geht, bestes und ewiges Leben.
Nun ist aber die Frage, wenn der νοῦς als Denken, als Geist, eine Tätigkeit ist, womit ist
er dann beschäftigt? Man könnte auch fragen, was denkt denn das Göttliche, wenn es das
ewig tut? Es kann nichts anderes denken als das Höchste überhaupt, und das ist es ja
selbst. Mit anderen Worten: das Denken denkt sich selbst, Aristoteles nennt das: νόησις
νοήσεως, sich selbst denkendes Denken. Die Theorie, die Aristoteles zum ersten Mal in
der Geschichte der Philosophie entwickelt, besteht dann auch in nichts anderem als in der
lustvollen Betrachtung dieses Göttlichen, dieses sich selbst denkenden Denkens. Und das
ist natürlich am Besten zu bewerkstelligen, wenn die Bedürfnisse des Körpers befriedigt
sind, wenn man also selbst am ungestörtesten denkt.
Darauf blickt nun Plotin zurück. Wie also bei seinem Verständnis des Einen hat er
eigentlich die gesamte Geschichte der Griechischen und auch der Römischen Philosophie
vor sich. Er kann sich aus diesem Fundus bedienen und tut das auch - ohne allerdings nur
epigonal zu sein. Man denke einmal, über wieviel Wissen von der Geschichte der
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Philosophie wir verfügen, wie viel manche Historiker der Philosophie wissen - wobei sie
noch nicht einmal epigonal sind, weil sie nicht versuchen, selber zu philosophieren. Sie
werden erdrückt von der Geschichte der Philosophie.
Plotin zitiert Parmenides z.B. in der Enneade V 9, die vom Geist, den Ideen und dem
Seienden handelt. Er sagt da: „Somit denkt der Geist das Seiende, indem er es ist, nicht
als etwas anderwärts Seiendes, denn es ist weder vor ihm, noch nach ihm, vielmehr ist er
gleichsam der erste Gesetzgeber oder richtiger das Gesetz des Seins selbst. Mit Recht
heißt es also ‚denn ein und dasselbe ist Denken wie Sein‘ und ‚die Wissenschaft von den
immateriellen Dingen ist identisch mit ihrem Objekt‘ und ‚ich habe mich selbst gesucht‘,
und auch die Lehre von den Wiedererinnerungen besteht zurecht.“ Plotin zitiert also nicht
nur Parmenides, sondern noch mindestens drei andere Philosophen: nämlich eben auch
Arisoteles, der die Theorie als Teilhabe am sich selbst denkenden Denken bestimmt,
weshalb die Wissenschaft vom Denken identisch mit ihrem Gegenstand, nämlich ja dem
Denken, ist. Sodann war es Heraklit, der sagte, „ich habe mich selbst“ gesucht. Die Lehre
von der Wiedererinnerung, der ἀνάμνησις, aber ist Platonischen Ursprungs. Vermutlich ist
auch die Formulierung vom Gesetz des Seins nicht authentisch Plotinisch, sondern
stoisch, aber ich lasse das hier einmal.
Schauen wir uns das noch einmal genauer an. Der Geist denkt das Seiende, indem er es
ist, d.h. der Geist ist selbst schon das Seiende, man könnte auch sagen, dass der Geist ja
selber sein muss, damit er Geist sein kann. Doch indem der Geist das Seiende ist, ist es
weder vor ihm noch nach ihm gegeben. Also nicht existiert zuerst das Seiende, dann
kommt der Geist hinzu, oder nicht erst ist Geist und dann kommt das Seiende. Die
Selbigkeit von Geist und Sein muss so begriffen werden, dass beides stets gleichzeitig ist.
Doch warum bezeichnet dann Plotin den Geist als Gesetzgeber oder als Gesetz des
Seins?
Nun - schon von Anaxagoras hörten wir ja, dass der Geist herrscht, auch bei Aristoteles ist
der Geist erste Ursache, Ursprung, d.h. er herrscht über das, wovon er Ursprung ist.
Inwiefern nun? Das Sein ist sozusagen selber geistig. Es ist eine philosophische
Erfahrung, dass man erkennt, dass und inwiefern das Seiende und das Sein ja nicht
einfach eine chaotische Masse ist, die tut, was sie will, regellos und ordnungslos. Im
Gegenteil - wir können ja sogar sagen, dass die Natur und überhaupt alles Seiende sehr
regelhaft und geordnet sind. Sonst ließe sich ja überhaupt nicht erklären, dass wir das
alles sehr erfolgreich erforschen können. Wäre nicht die Natur in sich regelhaft, d.h.
vernünftig, organisiert, dann könnten wir sie nicht erforschen. In diesem Sinne könnte man
sagen, dass sich der Geist in der Natur selber wiederfindet, indem er dort seine Gesetze
wiederfindet. Da es aber offenbar seine Gesetze sind, denn er findet sie ja in sich selber
vor, ist also ganz offenbar er das Gesetz des Seins.
Damit kann Plotin dann den Satz des Parmenides, wonach Sein und Denken dasselbe
seien, bestätigen. Auch den Gedanken des Aristoteles, dass die Philosophie als Denken
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