Der Geist ist ein durchleuchteter, sich selbst klarer Lichtraum, in dem alles sich in allem
spiegelt. „Unerschöpflich ist dort alles.“ sagt Plotin. Das Ineinanderstrahlen in der Helligkeit
des Geistes ist gleichsam der Ausdruck der Unendlichkeit, der Unerschöpflichkeit des
Sinnes, die aber als eine qualitative Unendlichkeit verstanden werden muss, also als eine
in sich bestimmte Unendlichkeit. In jedem Einzelnen strahlt alles andere. Plotin prägt dafür
die Griechische Formulierung: πάντα ἐν πᾶσιν, alles in allem, ein Ausdruck, der in
christlichen Texten aufgetaucht ist (Brief an die Korinther oder an die Epheser z.B., damit
ist natürlich Gott gemeint - nicht „pantheistisch“ zu verstehen). Bei Plotin ist aber jede
Idee in jeder anderen Idee, wobei er immerhin doch ein wenig einschränkt und sagt: „Es
überwiegt wohl in jedem Einzelnen etwas Besonderes, es werden aber in ihm zugleich alle
anderen Dinge sichtbar.“ Es ist für Plotin wichtig, das zu betonen, weil so die stärkste
Einheit und Ganzheit besteht.
Heute werden wir uns drei Themen widmen, um dann in der nächsten Woche mit der
Seele, der dritten Hypostase fortzufahren. Es geht erstens darum, wie denn der Geist
„Alles in allem“ ist, wenn es dabei doch ohne Zweifel Gegensätze und Widersprüche gibt:
schlicht gefragt: wie können Schwarz und Weiß eine Einheit und Ganzheit bilden?
Zweitens wird es darum gehen, zu sehen, wie Plotin in seiner Konzeption des Geistes das
Selbstbewusstsein, das wir doch eher als ein neuzeitliches Thema der Philosophie
betrachten, erfasst. Und drittens geht es darum, dass Plotin den Ursprung des Geistes
keineswegs im Geist selbst betrachtet.
Der Widerspruch ist ein eigenes Thema der Logik. Der erste, der den Widerspruch bzw.
den Ausschluss des Widerspruchs als das sicherste Prinzip des Denkens bezeichnet hat,
ist Aristoteles im vierten Buch der „Metaphysik“. Dieses Prinzip lautet so: „daß nämlich
dasselbe demselben und in derselben Beziehung unmöglich zugleich zukommen und nicht
zukommen kann.“ Es gibt noch eine weitere Form des Prinzips, die lautet: „Es ist nämlich
unmöglich, daß jemand annehme, dasselbe sei und sei nicht.“ Wenn eine Katze schwarz
ist, kann sie nicht zugleich und in derselben Beziehung weiß sein. Sie kann vielleicht ein
Weiß in den Augen haben, doch das wäre dann eben nicht dieselbe Beziehung, die wir
meinen, wenn wir einer Katze die Farbe „Schwarz“ zuschreiben. Diese logische Form des
Prinzips kann in eine ontologische übertragen werden, wonach die Katze nicht zugleich
sein und nicht sein kann. (Sie kann natürlich irgendwann einmal nicht mehr sein, aber
eben in diesem Augenblick („zugleich“) nicht.)
Nun ist der Geist, wie gesagt, „All-Einheit“, und er ist diese „All-Einheit“ in Ewigkeit, d.h. er
kann nicht verstanden werden als eine zeitlich-räumliche Extension. D.h., wenn er
Gegensätze und Widersprüche vereint, dann muss er dies eben „zugleich“ tun. In der Tat
sagt nun Plotin, dass im Geist das Kleine zugleich groß ist, das Viele zugleich Einheit und
die Einheit zugleich Vielheit, der Geist ist einfach und nicht-einfach zugleich, in sich
ununterschieden und zugleich unterschieden, in sich Ruhe und zugleich Bewegung, er ist
„gleichsam unentfaltet entfaltet“, weil er in seiner Selbstentfaltung Einheit bleibt. Wie kann
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das aber sein, vor allem wenn wir Aristoteles so verstehen, dass das Denken auf keinen
Fall das Prinzip des Widerspruchs verletzen darf, weil es dann eben „falsch“ ist.
Das Problem, um das es hier geht, ist die Einheit der Widersprüche. Dieses Problem hat
die Philosophie vielleicht könnte man sagen seit Heraklit beschäftigt. Wie kann das Eine
Vieles und auch Widersprüchliches enthalten? Das führte zu berühmten Formulierungen,
wie z.B. zu der des Nikolaus von Kues (1401-1464), der von einer coincidentia
oppositorum sprach. Der Urgrund von Allem - für Nikolaus Gott - ist eine einfache Einheit,
in der alles eingeschlossen ist (complicatio) und sich entfaltet (explicatio). Das ist ein
neoplatonischer Gedanke. Nikolaus kannte aber Plotin nicht, sondern Pseudo-Dionysius
Areopagita (schon von mir erwähnt). Im Deutschen Idealismus, bei Hegel, Schelling und
auch Hölderlin ist dann der Gedanke systematisch aufgenommen und angewendet
worden. Das „System“ ist das Eine in sich selbst unterschiedene oder, bei Hegel, die
Identität der Identität und der Nicht-Identität (Differenz). (Hegel kannte Nikolaus von Kues
nicht, dafür aber wieder andere, die Nikolaus kannten.)
Nun ist aber doch klar, dass Plotin das Widerspruchsverbot des Aristoteles kannte. Wie
kann er dem widersprechen? Wie geht das überhaupt? Dass er ihm widersprochen hat,
sehen wir in der Enneade VI 5 mit der Überschrift: Das Seiende, obgleich eines und
dasselbe, ist zugleich als Ganzes überall. Diese Enneade beginnt (ich erlaube mir einmal,
ein längeres Stück vorzulesen:
„Daß das der Zahl nach Eine und Identische (Selbe, ταὐτόν) überall zugleich als Ganzes
vorhanden ist, das bezeugt schon eine allgemein verbreitete Vorstellung, wenn nämlich
alle Leute aus reiner Veranlagung sprechen von dem Gott, der in jedem einzelnen von uns
ist, als von Einem und demselben. Und wenn man von Leuten keine Darlegung verlangt,
in welcher Weise sie sich das vorstellen, und auch nicht diese ihre Vorstellung kritisch zu
prüfen unternimmt, nehmen sie dies an, und indem sie so mit ihrem Nachdenken tätig
sind, finden sie ihre Ruhe, indem sie sich auf dies Eine und Identische gewissermaßen
stützen, und möchten nicht von dieser Einheit abgespalten werden. Es ist dies aber das
sicherste Prinzip von allen, welches unsere Seele uns gleichsam zuruft, das nicht aus der
Summierung von Einzelheiten erschlossen wird, sondern hervortritt, bevor alles einzelne
noch da ist, und auch noch vor jenem anderen Prinzip liegt, welches feststellt und besagt,
daß alle Dinge nach dem Guten trachten; denn dieses letztere Prinzip ist ja erst dann
wahr, wenn alles zum Einen strebt, und jenes Gute das Eine ist, und auf das Eine das
Trachten gerichtet ist.“
Das sicherste Prinzip ist also nicht das Widerspruchsverbot, sondern das Prinzip der
Einheit, dass alles Eines sei. Plotin begründet das interessanter Weise damit, dass schon
die einfachen Leute davon ausgehen, dass wir in einer Einheit leben bzw. eine Einheit in
uns ist, zu der wir unbedingt gehören. Auch sei hier einleuchtend, dass das Streben nach
dem Guten als dem zweiten Prinzip auf dem ersten und sichersten basiere, denn das Eine
sei das Gute selbst (und sei es auch wieder nicht, wir haben davon gehört, dass das Eine
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