Ontologie gesagt, dass das wahre Verständnis des Seins darauf beruht, dass man in ihm
die Wirklichkeit erkennt. Sein = zuerst Wirklichkeit. Dann ist Sein auch = Möglichkeit. Das
griechische Wort für Möglichkeit ist δύναμις. Sie verstehen: ein Baum kann wachsen, er
hat diese Möglichkeit. Wichtiger aber ist für Aristoteles, dass der Baum zunächst
überhaupt wirklich ist. Für ein Lebewesen wie den Baum gilt aber auch, dass er etwas
Mögliches darstellt. Das begreift Aristoteles aber irgendwie als einen Mangel. Denn je
mehr Möglichkeiten etwas noch hat, desto weniger wirklich ist es. Nun habe ich aber das
Wörtchen „noch“ gebraucht: je mehr Möglichkeiten etwas „noch“ hat … Was bedeutet
das?
Aristoteles meint, dass alles Seiende ein Ziel, ein τέλος hat. Das ist unter den vier
Ursachen die causa finalis (causa efficiens, causa formalis, causa materialis). Alles
Seiende geht darin auf, irgendwann genau das zu sein, was es von Anfang an sein sollte.
Ein Baum z.B. geht darin auf, zu blühen. Ein Kind ist dazu da, erwachsen zu werden. Ein
Haus ist dazu da, dass man darin wohnt. Etc. Wenn man so denkt, dann ist klar, dass man
in dem Moment, in dem das Ziel erreicht ist, eine Wirklichkeit erreicht hat, die vorher erst
möglich war. Denn dem Kind ist es möglich, erwachsen zu werden. Der Erwachsene
braucht diese Möglichkeit nicht mehr. Deswegen denkt Aristoteles, ist das Seiende zuerst
Wirklichkeit bzw. Tätigkeit im Sinne von Aktualität.
Inwiefern ist aber nun das Sein Wirklichkeit bzw. Tätigkeit? (Nur zur Erinnerung: wir hatten
uns ja schon gefragt, warum eigentlich das Eine nicht dasselbe sei wie das Sein. Damals
hatte ich gesagt, dass das Sein bei Plotin keineswegs unbestimmt sei. Das Sein hat immer
schon zuviel Bestimmtheit in sich als dass es mit dem Einen das Selbe sein könnte. Nun
sieht man das schon besser. Das Sein ist in sich Wirklichkeit.) Das Sein ist Wirklichkeit,
indem es selbst geistmäßig oder geistig ist. Das bedeutet, dass das Sein nicht einfach
Inhalt des Denkvollzugs ist, sondern dass das Denken im Sein sich selber wiederfindet,
weil das Sein quasi selbst schon Denken (Wirklichkeit) ist. Noch anders gesagt: das
Denken findet in der Tätigkeit des Seins seine eigene Tätigkeit wieder.
Dieser Gedanke geht auf Platon bzw. noch weiter auf Parmenides zurück. Dazu werfen wir
einen Blick in den Platonischen Dialog „Sophistes“, ein wichtiger Spätdialog, in dem Platon
seine Lehre der Ideen durchdenkt. Dabei geht es auch - ganz wichtig - um die Bewegung,
griechisch κίνησις. Das war eine stillschweigende Kritik an Parmenides, der gesagt hatte,
dass es am Sein keine Bewegung gibt, dass es unveränderlich in sich ruhe. Wer meint, es
bewege sich, der meine eben nur, denke aber nicht.
Für Platon ist Bewegung aber nicht nur Bewegung, sondern überhaupt Tätigkeit. Insofern
sich also etwas auf etwas bezieht, gibt es schon eine Tätigkeit. Eine Idee bezieht sich auf
eine andere (Idee des Leben bezieht sich auf die Idee der Bewegung), so gibt es bereits
eine Tätigkeit. Erkennen ist erst Recht eine Tätigkeit, eine Bewegung. Wenn aber
Erkennen eine Bewegung, ja, ein Bewegen ist, dann ist das Erkanntwerden selbst ein
Bewegtwerden. Der Fremde, die führende Figur im Dialog „Sophistes“, erkärt an einer
47
Stelle seiner Ausführungen: „Wenn das Erkennen ein Tun ist, dann kommt notwendig
heraus, dass das Erkannte leidet. Nach diesem Gedanken muß das Sein vollends, wenn
es von der Erkenntnis erkannt wird, soweit es erkannt wird, auch aufgrund des Erleidens
bewegt werden, was wir von dem Ruhenden nicht zugeben können.“ (248E) Die Aussage
wird ein wenig in der Schwebe gehalten, aber was doch auf jeden Fall stimmt, das ist,
dass Platon - anders als sein Lehrer Parmenides - dem Sein prinzipiell Bewegung
zuspricht. Das kommt unmittelbar nach der eben zitierten Stelle zum Vorschein, wenn der
Fremde sagt: „Aber bei Zeus, wie können wir uns einfach überreden lassen, daß dem
vollkommenen (παντελῶς, gänzlich, ganz und gar, schlechthin) Seienden wahrhaft weder
Bewegung, noch Leben, noch Seele, noch Einsicht innewohne, daß es also weder lebe,
noch sich Gedanken mache, sondern unnahbar und furchtgebietend, gedankenlos,
unbewegt dastehe?“ Das kann man natürlich nicht sagen. Denn das, was ganz und gar ist,
hat das alles.
Das bedeutet dann, dass das Sein nur insofern für den Geist erkennbar ist, weil es in sich
schon Geist und Denken enthält. Das hatte wiederum Parmenides selber mehr angedeutet
als deutlich gesagt, wenn es dort heißt: „Denn nicht ohne das Seiende wirst du das
Erkennen/Denken finden.“ Wenn wir das Platonisch lesen, dann meint das, dass schon
Parmenides im Seienden das Erkanntwerden mitgedacht hat, allerdings unter Verneinung
der Bewegung. Denn es geht folgendermaßen weiter bei Parmenindes: „Denn nichts
anderes ist noch wird sein außer dem Seienden, weil eben dies das Geschick (μοῖρα)
gebunden hat, ganz und unbeweglich zu sein.“ Da sind Denken und Sein identisch, weil es
nur und überall das eine ganze und unbewegliche Sein gibt.
Wir haben für jetzt aber nur gesehen, dass es im Sein eine Bewegung geben muss durch
das Erkanntwerden des Seins. Schon das ist freilich nicht ganz einfach zu verstehen, denn
wie können wir Anfänger hier das wirklich verstehen? Sagen wir, ich erkenne die
Gerechtigkeit oder, vielleicht besser noch, was eine gerechte Tat ist, wo findet denn da
Bewegung statt? Das kann man vielleicht nur dadurch verstehen, dass Platon die Idee als
das ewige und unveränderliche Seiende schlechthin voraussetzt. Es gibt einfach Ideen,
sagen wir die Idee der Gerechtigkeit. In dem Moment, wo ich über und mit dieser Idee eine
Aussage tätige, geschieht etwas. Es geschieht sozusagen etwas mit der Idee. Und dieses
- es geschieht der Idee etwas - ist die Bewegung.
Damit ist freilich mitnichten geklärt, warum das Sein in sich geistig oder sinnvoll sein soll.
Das führt nun auf das Thema des „Sophistes“ schlechthin zurück. Dort spricht Platon von
einer Idee des Seins. Wie können wir die denken oder verstehen? Nur, indem wir sie im
Zusammenhang mit anderen Ideen denken, den sogenannten höchsten Gattungen
(μέγιστα γένη). Auch hier geht es darum, zu sehen, dass wir das Sein schlechthin
überhaupt nicht denken könnten, wenn es nicht in ihm bereits Sinn gibt. Bei Platon
vollzieht sich das aber zunächst alles auf der Ebene des λόγος oder der Aussage. Die
fünf höchsten Gattungen, die das Sein sinnvoll werden lassen, sind: 1. Bewegung
(κίνησις); 2. Ruhe (στάσις); 3. Andersheit (ἕτερον); 4. Selbigkeit (ταὐτόν) und die 5. ist
48