8. Vorlesung
Das Eine ist der Ursprung von Allem. Aus ihm kommt zuerst der Geist. Über ihn hatten wir
in den letzten Stunden gesprochen. Er ist, so formuliert Plotin in der Enneade V 1 (Über
die drei ursprünglichen Hypostasen), ein Bild, εἰκών, des Einen. Er hat Ähnlichkeit mit
dem Einen, ist aber nicht das Eine. Genauso wie der Geist Bild des Einen, ist die Seele,
ψυχή, Bild des Geistes. Bild, das bedeutet, wie gesagt, dass es sich hier um
Ähnlichkeitsverhältnisse, vielleicht sogar um Analogien, handelt. Zugleich aber ist das Bild
immer nur Bild, d.h. es ist das Abbild eines Urbildes. Es geht also auch um Abstände, um
Abstände zwischen dem Einen, dem Geist und der Seele.
Es ist wie schon bei dem Einen und dem Geist selbst, dass Plotin nicht der erste ist, der
über die Seele spricht. Bereits Platon und Aristoteles haben grosse Texte über sie
verfasst. Platon vor allem den Dialog Phaidon, in dem es um die Unsterblichkeit der Seele
geht (im Dialog stirbt Sokrates, hingerichtet von seiner Polis Athen, daher das Thema).
Aristoteles hat ihr eine ganze Abhandlung gewidmet. Sie ist mit dem lateinischen Titel De
anima (Von der Seele) sehr einflussreich geworden. Wer Psychologie studiert, sollte
diesen Text kennen, selbst noch heute, meine ich. Wie dem auch sei: sowohl bei Platon
als auch bei Aristoteles wird klar, was der zweite dann auch genauso ausspricht: die Seele
ist ἀρχὴ τῶν ζῴων, Ursprung, Prinzip der Lebewesen. Sie ist das Leben schlechthin.
Beseelung, Leben.
Als dieses Prinzip spricht Aristoteles ihr fünf Eigenschaften, fünf Vermögen zu: das
nährende θρεπτικόν, das strebende ὀρεκτικόν, das wahrnehmende αἰσθητικόν, das
ortsbewegende κινητικὸν κατὰ τόπον, das denkende διανοητικόν Vermögen. Der
Pflanze kommt nur das Nährvermögen zu, den Tieren kommen alle Vermögen zu bis auf
das denkende, das nur dem Menschen oder einem noch erhabeneren Lebewesen, wie
Aristoteles sagt, zukommt. (Lebt ein Gott?)
Davon geht Plotin aus, wie er davon ausgeht, werden wir gleich erfahren. Zunächst aber
ist interessant zu sehen, dass Plotin sich dafür interessiert, wie die Seele in Erscheinung
tritt, was es also heißt, dass es die Seele gibt, dass das in sich ein spezifisches
Erscheinen ist. Die Seele stammt also vom Geist, der vom Einen. Wie stammt sie aber
davon ab? Plotin sagt etwas sehr Merkwürdiges: der Ursprung der Seele war „das Üble
und der Wagemut, das Eingehen ins Werden, die erste Andersheit, der Wille, sich selbst
zu gehören“. Und er fährt fort:
„An dieser ihrer Selbstbestimmung hatten sie, als sie denn in die Erscheinung getreten
waren, Freude, sie gaben sich reichlich der Eigenbewegung hin, so liefen sie den
Gegenweg und gerieten in einen weiten Abstand.“
Mit anderen Worten: die Seelen leben, sind erscheinendes Leben, und damit geraten sie
in einen großen Abstand zu ihrem Ursprung, denn dieses Leben ist eine Teilnahme am
64
Werden, am Vielen und Anderen. Das ist zwar für das Leben unvermeidlich, doch im
Verhältnis zum Einen ist es eben tatsächlich eine Art von Abfall, ein Sich-vom-Ursprung-
entfernen.
Die Seele ist Leben, sie gibt Leben. So heißt es in der besagten Enneade:
„So bedenke denn also erstlich jede Seele dies, daß sie selbst es ist, die alle Lebewesen
geschaffen hat und ihnen das Leben einhauchte, welche die Erde nährt und welche das
Meer, die in der Luft sind und die göttlichen Gestirne am Himmel; daß sie die Sonne und
sie unsern gewaltigen Kosmos, sie ihn formte, sie ihn in bestimmter Ordnung kreisen läßt;
und daß sie das alles tut als eine Wesenheit, die verschieden ist von den Dingen, die sie
formt, die sie bewegt und lebendig macht.“
Die Seele ist Leben, indem sie Leben gibt, Leben schafft. Auch die Sterne sind nicht nur
für Plotin Lebewesen, ja der ganze Kosmos lebt (ich hatte schon gefragt, ob auch Gott
lebt, und in der Tat nennt Aristoteles ja das Göttliche ein „ewiges Lebewesen“ - was doch
sehr eigenartig ist - andererseits freilich verständlich: wie könnte das Göttliche das
höchste Seiende sein, wenn es nicht das hätte, was beinahe allem anderen Seienden
zukommt?).
In einer anderen Enneade (IV 7), die sich mit der Unsterblichkeit der Seele beschäftigt,
heißt es:
„Denn die Seele ist der Urbeginn der Bewegung und verleiht erst Allem Anderen
Bewegung, während sie selbst sich aus sich selber bewegt; sie gibt dem beseelten Leib
erst das Leben, welches sie selbst von sich aus hat und niemals verliert, da sie es von
sich selber hat.“
Die Seele ist Leben, indem sie Selbstbewegung ist. Sie gibt Bewegung, wie sie selber
Bewegung von sich selber hat. Leben aber - das ist nicht unwichtig - wird auch schon von
Aristoteles als Selbstbewegung bezeichnet.
Wichtig freilich ist hier auch zu sehen, dass Plotin der Seele eine Art von Formkraft
zuspricht. Dieser Gedanke stammt von Aristoteles. In De anima spricht Aristoteles von der
οὐσία (natürlich nicht nur dort). Die ousía, lateinisch substantia, ist schlicht zu übersetzen
mit Wesen. Das Wesen ist das, von dem wir etwas aussagen, dem wir etwas zusprechen,
zuschreiben. Das heißt, es ist der Kern der Sache, die Sache selbst sozusagen. Von
dieser ousía sagt Aristoteles nun sei das „eine als Materie, das an sich nicht dieses
bestimmte Ding da ist, ein anderes aber als Gestalt und Form, nach welcher etwas schon
ein bestimmtes Ding ist, und drittens das aus diesen beiden Zusammengesetzte“. Materie,
ὕλη, wird von Aristoteles als formloser Stoff verstanden. Formloser Stoff - das erscheint
natürlich nicht, kann demnach kein Ding sein. Davon wird das εἶδος oder die μορφή
65