ja auch über dem Guten steht, insofern es die Einheit des Guten garantiere, das Gute aber
nicht die Einheit der Einheit).
Plotin wählt also nicht den Weg, den man gewöhnlicherweise wählt wenn man dem
Widerspruchsverbot entgehen will: wie ich es bei der schwarzen Katze schon angedeutet
habe, kann man das Widerspruchsverbot in Hinsichtenunterschieden auflösen. Also bin
ich groß und klein zugleich: im Vergleich zu meiner Tochter bin ich groß, im Bezug auf Dirk
Nowitzki bin ich klein. Ich unterscheide Hinsichten meiner Körpergröße. Oder einer ist
krank und gesund zugleich: hinsichtlich seiner Depressionen ist er krank, hinsichtlich
seines „objektiven Zustands“ (also - wie wir sagen: körperlich) betrachtet ist er gesund.
Plotin aber geht das Widerspruchsverbot anders an.
Doch genauer betrachtet ersetzt Plotin nicht einfach das Widerspruchsverbot durch das
Einheitsprinzip, sondern er schränkt nur die Bedeutung des Aristotelischen Prinzips ein.
Der λόγος oder die διάνοια im Unterschied zum νοῦς, also wir könnten sagen: das
diskursive Denken, der „Verstand“ vielleicht, ist auf das Widerspruchsverbot angewiesen.
Sozusagen im Alltag gilt der Satz vom Widerspruch. Doch über ihn hinaus gibt es noch ein
geistiges Sein, bei dem uns „intutitiv“ (Plotin gebraucht das Verb φθέγγομαι, die Seele
ruft uns das sozusagen zu) das Einheitsprinzip klar wird. Es gibt eine Einheit und wir
gehören zu ihr, indem diese Einheit selbst auch in mir ist.
Was aber ist über diese Einheit noch weiter zu sagen? Über das Eine haben wir ja bereits
sehr Vieles gehört. Hier kommt es aber auf noch etwas anderes an (allerdings hatte ich
auch das schon erwähnt). Der Gegensatz, der kontradiktorische Gegensatz (kleiner
Exkurs: wir unterscheiden in der Logik kontradiktorische von konträren Aussagen.
Kontradiktorisch ist: Ich bin krank - Ich bin gesund (nun nicht in Hinsichtenunterschieden,
sondern als Einheit) - wer nicht krank ist, ist gesund, wer gesund, nicht krank - wir können
nicht sagen, ich bin weder krank noch gesund, sondern … Das können wir aber bei
konträren Aussagen: zur Ehre der Einführung des Mindestlohnes: der Job ist überbezahlt -
der Job ist unterbezahlt - das gibt es ein weder-noch, nämlich dass er genau richtig
bezahlt wird), also der Widerspruch fängt überhaupt in einem Widerspruch aller
Widersprüche an: das ist der kontradiktorische Gegensatz von Einheit und Vielheit.
Dieser Widerspruch aber kann als solcher nicht der letzte sein, d.h. der Gegensatz von
Einheit und Vielheit kann nicht einfach so stehengelassen werden, denn das würde
natürlich dem Einheitsprinzip nicht entsprechen. Das höchste Prinzip schlechthin ist ja das
Eine (und nicht das Eine im Gegensatz zum Vielen - so würde das Viele selbst ja wieder
zu einem gleichwertigen Prinzip). Das bedeutet, dass der Gegensatz von Einheit und
Vielheit in eine höhere Einheit „aufgehoben“ werden muss, in eine Einheit von Einheit und
Vielheit. Und wirklich spricht Plotin vom Geist als ἕν πολλὰ, dem Einen-Vielen als der
Einheit von Einheit und Vielheit.
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Das zweite Problem, das ich mit ihnen durchsprechen möchte, betrifft die Struktur des
Geistes insofern, als ihm nicht nur Wissen, das Wissen der Ideen zugesprochen wird,
sondern - und zwar schon vor Plotin - ein Wissen des Wissens, d.h. ein Selbstbezug. Ich
weiß nicht nur, sondern ich weiß ja auch, dass ich weiß. Ich denke nicht nur, ich denke
auch, dass ich denke. Wir nennen das „Selbstbewusstsein“. Klar ist, dass das
Selbstbewusstsein zugleich Eines und Vieles ist und dieses Verhältnis selber noch in einer
Einheit aufhebt. Diese letzte Einheit ist aber - so könnte man sagen - das Selbst im
Wissen, nämlich dass jedes Wissen mein Wissen sein muss.
Einer der berühmtesten Sätze der griechischen Antike ist der Spruch, der am Apollon-
Tempel in Delphi gestanden haben soll: Γνῶθι σαυτόν, Erkenne Dich selbst. Dieser
Spruch meint eigentlich: Du, der Du hierher nach Delphi kommst, zu mir, dem Gott
Apollon, sollst Dich selbst erkennen, nämlich dass Du ein Mensch, ein Sterblicher, und
kein Gott bist. Ich, Apollon, weiß Alles, Du aber, weißt im Vergleich dazu nichts. Die
Philosophen freilich haben diesen Satz zum Anlass anderer Überlegungen werden lassen.
So z.B. Platon in seinem frühen Dialog „Charmides“. Platon/Sokrates stellt die Frage, ob
es eine ἐπιστήμη der ἐπιστήμη gebe, d.h. nicht nur ein Wissen, sondern ein Wissen des
Wissens. Ich weiß, dass ich weiß. Wie aber, wenn ich weiß, dass ich weiß, weiß ich dann
auch, was ich weiß. Und wenn ich weiß, dass ich weiß, aber nicht was, weiß ich dann
überhaupt etwas, denn Wissen ist doch immer Etwas Wissen? Ist dann aber wirklich
möglich, zu wissen, dass man weiß, wenn dieses dass etwas anderes als ein was ist?
Platon/Sokrates bleibt bei dieser Aporie stehen. Man spricht bei Platons frühen Dialogen
von den aporetischen Dialogen, d.h. den Gesprächen, die bei einer Auswegslosigkeit
stehen bleiben. Gibt es ein dass-Wissen im Unterschied zum was-Wissen? Es scheint ja
und nein - d.h. die Frage ist aporetisch.
Auf dieses Problem reagiert auch die Aristotelische Formulierung, der Geist sei νόησις
νοήσεως, sich selber denkendes Denken. Hier scheint zusammengedacht zu werden,
dass ein Denken sich in einem Bezug auf sich selbst denkt, wobei aber doch klar ist, dass
dieses Denken ja nicht nur diesen Selbstbezug denken kann, denn es muss ja etwas
denken, dann erst kann das Denken denken, dass es denkt. Wie aber ist das zu
verstehen? Denke ich etwas anderes, wenn ich denke, dass ich denke, als das, was ich
denke? Ich kann ja nicht schlechthin zugleich zweierlei Dinge denken, nämlich zugleich
dass und was ich denke.
Das Modell, dass das Selbstbewusstsein in einem ich denke, dass ich denke, besteht,
nennt man heute das „Reflexionsmodell“. Reflexio heißt zurückbeugen. Ich kann mich
gleichsam zurückbeugen auf mein eigenes Denken und denken, dass ich denke. Wie ist
es aber? Muss ich nicht dann denken, dass ich denke, dass ich denke? Geht die Reflexion
nicht von sich aus in eine unendliche Iteration über? Und ist hier nicht dasselbe Problem
wie schon in Platons „Charmides“ gegeben? Denke ich Inhalte meines Denkens oder eben
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