„ - denn dort oben herrscht das ‚mühelos leben‘ (Phaidros-Zitat) -, dazu ist die Wahrheit
ihnen Mutter und Amme, Sein und Nahrung, so sehen sie alles dort, nicht das, ‚dem das
Werden anhaftet‘, sondern das Sein, und sehen sich selber in den anderen; denn alles ist
dort durchsichtig und es gibt kein Dunkles, Widerständiges, sondern ein jeder und jedes ist
für jeden sichtbar bis ins Innere hinein; denn Licht ist dem Lichte durchsichtig. Es trägt ja
auch jeder alle Dinge in sich, und sieht anderseits auch im anderen alle Dinge, überall sind
daher alle Dinge da und jedes ist Alles, das einzelne ist das Ganze, und unermeßlich ist
das Leuchten. Denn jegliches Ding von ihnen ist groß, denn auch das Kleine ist dort groß;
die Sonne ist dort alle Sterne, und jeder Stern ist Sonne und alle Sterne. Es überwiegt
wohl in jedem Einzelnen etwas Besonderes, es werden aber in ihm zugleich alle anderen
Dinge sichtbar.“ (V 8, 4, Die geistige Schönheit)
Der Geist als der durchleuchtete, sich selbst klare, ist ein Lichtraum, in dem alles sich in
allem spiegelt. Es ist demnach nicht einfach so, dass in jeder Einzelnheit das Allgemeine,
eben der Geist, wiederkehrt, sondern alle Ideen scheinen in ihrem Licht in jeder einzelnen.
Wie ließe sich das noch verstehen? „Unerschöpflich ist dort alles.“ sagt dann auch Plotin.
Das Ineinanderstrahlen in der Helligkeit des Geistes ist gleichsam der Ausdruck der
Unendlichkeit, der Unerschöpflichkeit des Sinnes. In jedem Einzelnen strahlt alles andere.
Plotin prägt dafür die Griechische Formulierung: πάντα ἐν πᾶσιν, alles in allem, ein
Ausdruck, der in christlichen Texten aufgetaucht ist, im Brief an die Korinther oder an die
Epheser z.B., damit ist natürlich Gott gemeint. Bei Plotin ist aber jede Idee in jeder
anderen Idee, wobei er immerhin doch ein wenig einschränkt und sagt: „Es überwiegt wohl
in jedem Einzelnen etwas Besonderes, es werden aber in ihm zugleich alle anderen Dinge
sichtbar.“ Es ist für Plotin wichtig, das zu betonen, weil so die stärkste Einheit und
Ganzheit besteht.
Freilich macht sich hier dann auch ein Problem kenntlich, mit dem es die späteren
Philosophen der Metaphysik zu tun haben werden. Wie sieht es denn eigentlich aus mit
dem „Besonderen“? Was heißt das, was ist das Besondere? Für die Metaphysik und auch
für Plotin besteht das Besondere stets in einem Verhältnis zum Allgemeinen. Das
Allgemeine ist mithin die Voraussetzung des Besonderen. Es gibt also das Besondere
immer als eine Variation des Allgemeinen. Ist das aber das wahrhaft Besondere? Ist
dieses nicht vielmehr nicht nur ein Einzelnes, sondern ein Einzigartiges? Nun, das
Einzigartige lässt sich nicht so denken, so verstehen, wie das Besondere, das sich in
seinem dialektischen Verhältnis zum Allgemeinen stets recht leicht bestimmen lässt. Aber
vielleicht ist das wahrhafte Besondere ja das Einzigartige. Und dann muss man
versuchen, das metaphysische Denken vielleicht hinter sich zu lassen.
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7. Vorlesung
Erinnern wir uns. Die Philosophie Plotins entfaltet sich in drei Hypostasen, drei
Seinsstufen, zu der noch eine weitere „Stufe“ kommt, die Plotin aber nicht eigentlich zum
Sein zählt. Die Philosophie beginnt beim Einen, geht über zum Geist, dann zur Seele und
zuletzt - wie gesagt in einem uneigentlichen Sinne - zur Materie, zum Stoff. Wir hatten
ausführlich Plotins Einheits-Denken besprochen (wir werden wieder darauf
zurückkommen, eigentlich ist es ständig anwesend), wir haben auch über den Geist
bereits Einiges erfahren. Beim Erläutern beider Hypostasen habe ich stets auf den
historischen Kontext in der griechischen Philosophie hingewiesen. In Bezug auf den Geist
habe ich z.B. auf die Wichtigkeit des Parmenides, des Anaxagoras und auch des
Aristoteles hingewiesen.
In der letzten Stunde vor den Ferien hatte ich erläutert, inwiefern für Plotin das Sein selbst
nichts „anderes“ zum Geist, zum Denken ist, es selbst ist schon „denksam“, ich könnte
auch sagen, dem Denken ganz und gar zugänglich, also dem Denken grundsätzlich
entsprechend. Dabei spielen natürlich die „Ideen“ eine wichtige Rolle. Das Ideen-Denken
des Platon ist dabei natürlich für Plotin von entscheidender Bedeutung, besonders wie es
sich in den Platonischen Dialogen „Sophistes“ und „Parmenides“ darstellt. Die Ideen
ermöglichen es dem Denken, das Sein zu differenzieren und gleichzeitig zu einer
qualitativen Ganzheit oder Totalität des Seins zu kommen.
Diese qualitative Totalität im Unterschied zu einer quantitativen ist nicht ganz leicht zu
verstehen. Warum - ließe sich fragen - bilden die Ideen eine qualitative Totalität aus -
warum kann es nicht eine Idee mehr oder weniger geben? Weil jede Idee, das ist der
Gedanke Plotins, ihre Bedeutung erst im Ganzen findet. Die Bedeutungen der Ideen
bilden ein Ganzes, das sich eben als ein bestimmtes Ganzes darstellen muss, weil eben
die Bedeutungen bestimmt sein müssen. So übrigens dann auch die Bedeutung des
Ganzen selbst.
Plotin zeichnet diese Ganzheit mit einem wunderschönen Bild:
„ - denn dort oben herrscht das ‚mühelos leben‘ (Phaidros-Zitat) -, dazu ist die Wahrheit
ihnen Mutter und Amme, Sein und Nahrung, so sehen sie alles dort, nicht das, ‚dem das
Werden anhaftet‘, sondern das Sein, und sehen sich selber in den anderen; denn alles ist
dort durchsichtig und es gibt kein Dunkles, Widerständiges, sondern ein jeder und jedes ist
für jeden sichtbar bis ins Innere hinein; denn Licht ist dem Lichte durchsichtig. Es trägt ja
auch jeder alle Dinge in sich, und sieht anderseits auch im anderen alle Dinge, überall sind
daher alle Dinge da und jedes ist Alles, das einzelne ist das Ganze, und unermeßlich ist
das Leuchten. Denn jegliches Ding von ihnen ist groß, denn auch das Kleine ist dort groß;
die Sonne ist dort alle Sterne, und jeder Stern ist Sonne und alle Sterne. Es überwiegt
wohl in jedem Einzelnen etwas Besonderes, es werden aber in ihm zugleich alle anderen
Dinge sichtbar.“ (V 8, 4, Die geistige Schönheit)
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