eben das Seiende (ὄν) selbst. Nun muss man aber verstehen, dass diese fünf Gattungen
auf jede einzelne Gattung der fünf bezogen werden müssen. Also jede dieser Gattungen
ist seiend, bewegt (erkennbar), ruhend (sich gleichbleibend), von den anderen
verschieden und mit sich identisch. Die fünf höchsten Gattungen sind miteinander
verflochten, sie bilden den Sinn des Seins (wenn ich das so einmal sagen dürfte) durch
eine Einheit, die diese Unterschiedenheit in sich enthält. Ohne diese höchsten Gattungen
gebe es keine Möglichkeit, überhaupt über das Sein Aussagen zu machen.
Man könnte hier noch andere Dialoge des Platon zitieren, vor allem den „Parmenides“,
der, wie ich ja schon sagte, für den Neoplatonismus eine ganz besondere Bedeutung hat,
weil es dort um das Verhältnis des Einen zum Sein geht, aber das würde vielleicht für eine
Einführung in den Neoplatonismus zu weit gehen. Worum es sich bei all dem handelt, das
ist, zu zeigen, inwiefern das Sein eben keine abstrakte Unbestimmtheit darstellt, sondern
als ideelles Sein, als Sein der Ideen oder Idee des Seins schon selbst denksam - um
einmal ein seltsames Wort zu erfinden - es ist selbst schon ideenmäig strukturiert. Daher
kommt das Denken aus dem Sein selbst, da es ja selbst ist. Oder andersherum, wenn es
auf das Sein trifft, trifft es gleichsam sich selbst. Plotin spricht dann auch von einem
κόσμος νοητός und einem κόσμος αἰσθητός, einer Ordnung des ideellen und einer
Ordnungen des wahrnehmbaren Seins. Wichtig ist, dass er das ganz als einen κόσμος,
als eine schöne Ordnung betrachtet. Das Denken ist im Sein zuhaus. Ob das Sein im
Denken zuhaus ist?
Das Denken ist im Sein zuhaus, das Sein ist ein Haus des Denkens. Plotin ist so sehr am
Geist und seinem Denken interessiert, dass er den Vorgang des Denkens im Sein der
Ideen selbst zur Sprache bringt. Wie geschieht Denken? Plotin schreibt:
„Vielleicht darf man gar nicht sagen, das (seiende) Eine sei der Grund (αἴτιον) der
anderen Ideen, sondern man muss diese gleichsam als seine Momente (μέρη) und
gleichsam als seine Elemente (στοιχεία) auffassen und das Ganze als eine einheitliche
Wesenheit, die nur durch unser begriffliches Denken (ἐπίνοια) gleichsam zerteilt wird,
während es selbst durch seine wunderbare Kraft Eines in Allem (ὑπὸ δυνάμεως
θαυμαστῆς ἓν εἰς πάντα) ist und als Vieles erscheint und zu Vielem wird, wenn es sich
gleichsam bewegt, und diese Vielfältigkeit seiner Wesenheit bewirkt, daß das Eine nicht
Eines ist. Wir heben gleichsam Teile von ihm heraus, setzen sie als je besondere Einheit
und nennen sie Idee (γένος), ohne zu wissen, daß wir nicht das Ganze in eins und zumal
erblickt haben, sondern nur einen Teil herausheben und die Teile dann wieder verknüpfen,
weil wir sie nicht lange Zeit festhalten können; denn sie streben zu sich selbst zurück.
Darum entlassen wir sie wieder in das Ganze und lassen sie wieder Eines werden, oder
vielmehr Eines sein.“ (VI 2, 3, Über die Gattungen des Seienden)
Das Denken bzw. der Geist steht einem Ganzen der Ideen, einer Einheit, gegenüber oder
besser, es ist davon umgeben, es ist das Milieu des Denkens, eben das Haus. Die Ideen
werden dabei als Momente oder Elemente dieser Einheit gefasst, das Ganze als eine
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einheitliche Wesenheit. Unser Denken zerteilt diese Einheit dadurch, dass es Begriffe,
Ideen in bestimmten Bedeutungen verwendet, dass es überhaupt in klaren Abgrenzungen
- Definitionen sozusagen - verläuft. Denken heißt Differenzen setzen und auch - wie wir
gelich sehen werden - aufheben. Die wunderbare Kraft der Seins-Ideen sorgt aber dafür,
dass das Sein eines bleibt und trotzdem als Vielheit erscheint. Hier nun steht das andere
Aristotelische Wort, das andere zu ἐνέργεια, nämlich δύναμις. Die Wirklichkeit birgt,
enthält stets Möglichkeiten. Plotin ist aufmerksam genug, um von einer wunderbaren
Möglichkeit zu sprechen, nämlich dem Denken eine Vielheit zu eröffnen, obgleich das Sein
eine Einheit und ein Ganzes bleibt. Das „Eine sei nicht eines“, eine paradoxe Bemerkung,
die aber nicht meint, dass das Eine nicht wahrhaft eines ist, es ist eigentlich natürlich
Eines und sogar ein Ganzes und dabei Vielheit für das Denken zu sein. Das Sein der
Ideen ist „Eines in Allem“.
Das Denken hebt die Vielheit in ihren Teilen hervor und nennt den einzelnen Teil „Idee“,
obzwar im Griechischen γένος steht, was an die μέγιστα γένη Platons erinnert.
„Gattungen“, d.h. die Idee im logischen Sinne als einer Allgemeinheit, die sich von anderen
Allgemeinheiten unterscheidet. Wir wissen dabei nicht, dass wir das Ganze als Einheit
immer schon erblickt haben. Das meint etwas sehr wichtiges. Wir verwenden zwar
einzelne Ideen, halten sie nicht lange fest und verknüpfen sie dann wieder mit Ganzen.
Das setzt aber voraus, dass wir den Zusammenhang der Ideen im vorhinein bereits
verstanden haben. Wir bedienen uns sozusagen der einzelnen Ideen, ohne uns jemals die
Einheit des Ganzen klarmachen zu müssen. Wir wissen eigentlich nicht, wie Denken
geschieht, doch wir sind stets als Denken tätig. Dazu gleich noch mehr.
Plotin sagt nun aber noch, dass die Teile in das Ganze zurückstreben. Diese Bewegung ist
wohl wichtig. Denn das bedeutet, dass auch das Sein selbst eine Art von Selbstverhältnis
besitzt. Ich möchte damit vorsichtig sein, weil auch das schon wieder gleich Hegelisch
klingt. Aber wenn das Sein selbst bereits denksam ist, geistig ist, dann ist es durchaus
möglich und für Plotin eher wirklich, dass dem Sein dieser Rückbezug selber zukommt.
Und wenn es diese Einheit zwischen Denken und Sein in dem Sinne geben soll, dass das
Sein denksam ist und das Denken „seinshaft“ (οὐσιώδης νόησις, V 3, 5, Die
erkennenden Wesenheiten), dann müssen dem Sein Eigenschaften zukommen, die auch
dem Denken zukommen.
Das Denken nun aber erkennt nur Einzelnes in einer Vielheit, indem es die Ganzheit
immer schon weiß. Diese Ganzheit aber stellt sozusagen das Denken stets her. Es heißt
daher bei Plotin sehr wichtiger Weise:
„Es scheint nämlich ganz allgemein das Denken (νοεῖν) ein durch das Zusammentreten
von Vielem zu einem mit sich Identischen sich vollziehendes Bewußthaben des Ganzen
(σύνθεσις τοῦ ὁλοῦ) zu sein, jedenfalls wenn etwas sich selbst denkt, was ja das
Denken im eigentlichen Sinne ist.“ (V 3, 13)
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