dem Schluss gekommen ist, dass wirklich gesichertes Wissen unmöglich sei. Nehmen wir
eine beliebige Aussage über die Natur: Wasser verdampft bei 100 Grad. Das kann ich hier
beweisen. Aber kann ich es bei allen möglichen Fällen, in denen Wasser bis zu 100 Grad
erhitzt wird, beweisen? Nein. Vielleicht ändert sich die Gradzahl einmal oder, wer weiß,
Wasser verdampft gar nicht mehr. Ich kann mich nicht ganz und gar auf die Aussage
verlassen. Plotin wird von solchen unphilosophischen Spielereien gehört haben. Auch die
Neuzeit, z.B. Descartes, besinnt sich wieder auf die Skepsis (Zweifelsgang). Das ist eine
historische Ähnlichkeit.
Die Enneade V 5 beginnt dann dementsprechend mit der Frage: „Der Geist, der wahrhaftig
und eigentlich Geist ist: will man von ihm vielleicht behaupten, daß er je trüge und
Nichtseiendes glaube? Keinesfalls. Denn wie könnte er noch Geist sein, wenn er
geistverlassen wäre? Er muß also immer wissen, darf nichts je vergessen; und sein
Wissen darf nicht auf Vermuten beruhen, noch zweifelhaft sein, noch auch andererseits
von einem andern stammen, von dem er es gleichsam gehört hätte. Folglich beruht es
auch nicht auf Beweis.“ Die Grundaussage dieses Zitats ist die, dass der Charakter des
Geistes im Wissen besteht. Geist heißt Wissen, und es ist nicht möglich, das Gegenteil
anzunehmen.
Was ist damit gemeint? Plotin unterscheidet hier Gegenstände des Denkens,
Gegenstände des Wissens. Es gibt Äußeres, Dinge außerhalb des Denkens, Dinge, die
wir wahrnehmen (müssen). Diese Dinge können uns täuschen, das weiß Plotin. Sie
täuschen uns sogar prinzipiell, denn sie sind ja Abbilder der Ideen, daher sind sie ohnehin
kaum der Rede Wert. Nun gibt es aber ἀπόδειξις, Beweis. Doch hier teilt Plotin die
Skespsis eines Sextus Empiricus. Dass ein Beweis funktioniert, setzt voraus, dass in dem
Beweisverfahren immer alles genau funktioniert. Das kann aber nicht in allen möglichen
Fällen vorausgesetzt werden, d.h. es kann überhaupt nicht vorausgesetzt werden. Das
bedeutet aber, dass Wissen von bewiesenen Dingen nicht täuschungsfrei ist, genau wie
Wissen, das auf Wahnehmung beruht.
Überhaupt kann das Wissen nicht von Außen kommen. Das ist eine Lehre der Stoiker,
wonach alles Wissen von Außen wie mit einem Stempel im Geist eingeprägt wird. Plotin
lehnt diese Auffassung, wie kann es anders sein, ab. Eine solche Erklärung des Wissens
bleibt im wahrsten Sinne des Wortes äußerlich. Hier spielt der Geist selbst beinahe keine
Rolle. Zudem ist die Frage zu stellen, woher denn der Geist die Kriterien der Wahrheit
kennt, wenn alles, was er weiß, von Außen kommt. Ein bekanntes Argument, das schon
noch Kant gegen Hume wenden wird. Schön und gut, der Empirismus hat sein Recht, vor
allem wenn man Aussagen über Gott tätigt, die schlechthin nur auf intelligiblen
Voraussetzungen beruhen, wenn nichts in der Welt diese Aussagen bestätigen oder
widerlegen kann. Aber können auch die internen Bedingungen des Denkens selber
empirisch gegeben sein (z.B. die Kategorien)? Das verneint Kant. Das Wie des Denkens
muss im Denken selber angelegt sein.
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Jene Skepsis des Plotin gegenüber den äußeren Gegenständen hegt, führt aber natürlich
nicht dazu, dass der Geist plötzlich Unwissen sein könnte. Die Gegenstände, um die es
beim Wissen geht, also z.B. die Ideen, sie findet er immer schon in sich selbst vor. Das
Wissen von diesen Gegenständen kann eigentlich aber nicht der Täuschung unterliegen,
weil der Geist selbst dieses Sein ja ist. Indem der sich auf sich selbst bezieht, indem er
das Seiende in ihm selbst betrachtet, in der Einheit mit dem Seienden, weiß er das Wissen
in unmittelbarer Einsicht. Es ist im Grunde sinnlos zu fragen, zumal für einen Platoniker,
ob das Wissen der Ideen täuschungsanfällig ist. Die Ideen sind ja gerade die Kriterien des
Denkens. Sie sind so anwesend, dass sie das Denken selber sind. Das aber kann als
solches nicht falsch sein. Es ist sich der Wahrheit der Ideen inne, und gerade daher kann
es, jedenfalls wenn es sich auf so etwas wie die wahrgenommenen Gegenstände einlässt
getäuscht werden. Gerade daher soll besagen: dass es die Täuschung ja nur deshalb
durchschauen kann, dass es Täuschung als Täuschung nur deshalb gibt, weil der Geist
die Wahrheit kennt, sie sozusagen ist.
Nun habe ich aber bisher immer so getan, als sei Plotins Theorie, wonach der Geist die
Ideen in sich enthält, eine Selbstverständlichkeit. Das ist aber keineswegs der Fall. Auch
bei Platon ist das nicht so. Ich hatte zwar vorhin von der Theorie der ἀνάμνησις so
gesprochen, als würde sie schon Plotins Geistmetaphysik gleichsam vorwegnehmen. Das
ist aber keineswegs so. Die Ideen selber sind für Platon nicht im Denken verortet. Sie
kommen ins Denken, in die Seele, wie ich schon zu Anfang gesagt habe. Sie sind das
ewige, unveränderliche und höchste Seiende. Die Idee der Ideen, die Idee des Guten, ist
jenseits des Seins lokalisiert. Plotin schließt sich mit seinem Denken des Einen diesem
Gedanken von einer absoluten Transzendenz an, doch das Eine ist keine Idee (es wäre
sonst nicht das Eine). Nein, dass die Ideen sich im Geist befinden, ist ein neuer Gedanke.
Er hat viele Fragen im Gefolge. Zunächst einmal: wenn die Ideen im Geist sind (man
könnte auch sagen, wenn das wahrhaft Seiende im Geist ist), wie kommen sie da hin?
Bringt der Geist sie hervor oder findet er sie? Ist er also eher ein poetischer (produktiver)
Geist oder ein rezeptiver, schafft oder empfängt er das Sein? Und wie kann der Geist sich
selbst denken, wenn er die Ideen denkt? Damit hängt die weitere Frage zusammen, wie
der Geist eine Einheit sein kann, wenn er in sich eine Vielheit, eben eine Vielheit der
Ideen, enthält?
Ich möchte noch die erste Frage beantworten. Wie klärt Plotin das Verhältnis zwischen
Geist und Ideen, die in ihm sind? Er lehnt die Möglichkeit ab, dass der Geist die Ideen
hervorbringen könnte. In der schon genannten Enneade V 9 heißt es: „Der Geist hat seine
Inhalte nicht gedacht, um sie in die Existenz zu bringen. Denn es ist nicht, als er Gott
dachte, Gott entstanden, und als er Bewegung dachte, die (Idee der) Bewegung
entstanden. Darum ist auch die Auffassung der Ideen als Gedanken (noeseis), wenn sie
so gemeint ist, daß erst, als der Geist sie dachte, die einzelne Idee entstand und nun
existiert, nicht richtig. Denn das Gedachte muß ursprünglicher sein (proteron) sein als
dieser bestimmte Denkakt (noesis); denn wie könnte er sonst dazu kommen, es zu
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