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3. Rechtsgutsbezogene Begriffsbestimmung
Überwiegend wird in der deutschen Strafrechtswissenschaft eine rechts-
gutsbezogene Begriffsbestimmung vorgenommen. Bei Wirtschaftsstraf-
taten gehe es ausschließlich um Straftaten, die dem Schutz überindividu-
eller Rechtsgüter des Wirtschaftslebens dienen
4
. Hierbei wird teils sehr
weit die gesamte Wirtschaftsordnung
5
als geschütztes Rechtsgut be-
griffen, teils enger die soziale Marktwirtschaft oder einzelne ihrer Prin-
zipien
6
. Teilweise wird auch auf den Missbrauch des (System-)Vertrau-
ens
7
abgestellt. Diesen Ansätzen wird entgegengehalten, dass Kollek-
tivrechtsgüter zu „diffus“ seien und „herbeigezaubert“ würden
8
. Dem ist
jedoch zu widersprechen, da es bei vielen Straftaten ersichtlich um den
Schutz von Institutionen (etwa des Börsen- und Kreditwesens; der Versi-
cherungswirtschaft) geht
9
. Allerdings stößt eine Begriffsbestimmung, die
allein auf überindividuelle Rechtsgüter abhebt, bei Straftaten an Gren-
zen, für die anerkannt ist, dass sie – wie die Untreue
10
– ausschließlich
Individualrechtsgüter schützen.
4. Kriminologisch-rechtsgutsbezogene Begriffsbestimmung
Vorzugswürdig erscheint eine Begriffsbestimmung, die kriminologische
mit rechtsgutsbezogenen Aspekten kombiniert
11
und das europäische
Recht einbezieht. Danach fallen unter das europäische Wirtschaftsstraf-
recht alle Straftaten, die bei der wirtschaftlichen Betätigung begangen
werden und einen überindividuellen Bezug haben, da sie die vier Grund-
freiheiten oder die Organe und Einrichtungen der Union betreffen. Die
4
Tiedemann, Wirtschaftsstrafrecht, Einführung und Allgemeiner Teil, 4. Aufl. 2014, Rn. 65.
5
Tiedemann, JuS 1989, 689, 691.
6
Bottke, wistra 1991, 1, 4.
7
Otto, ZStW 96 (1984), S. 339, 342.
8
Vgl. nur Roxin, Strafrecht, Allgemeiner Teil, Bd. I, 4. Aufl. 2006, § 2 Rn. 75 ff.
9
Tiedemann, Wirtschaftsstrafrecht, Einführung und Allgemeiner Teil, 4. Aufl. 2014, Rn. 65.
10
Waßmer, in: Graf/Jäger/Wittig (Hrsg.), Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, 2. Aufl. 2017, §
266 StGB Rn. 9.
11
Vgl. zur h.M. in der deutschen wirtschaftskriminologischen Literatur: Schwind, Kriminolo-
gie und Kriminalpolitik, 23. Aufl. 2016, § 21 Rn. 17 m.w.N.
94
Tatbestände können hierbei nicht nur – wie meistens – überindividuelle
Rechtsgüter schützen, sondern auch Individualrechtsgüter, soweit deren
Beeinträchtigung eine grenzüberschreitende Dimension hat. Diese Be-
griffsbestimmung kann einerseits die gesamte wirtschaftliche Betätigung
erfassen, wird andererseits aber dadurch eingeschränkt, dass die Straf-
taten einen Bezug zu den Grundfreiheiten bzw. der Union haben müssen.
II. PHASEN DER EUROPÄISIERUNG DES DEUTSCHEN
WIRTSCHAFTSSTRAFRECHTS
Die Europäisierung des deutschen Wirtschaftsstrafrechts ist un-
trennbar mit der Entstehung des Strafrechts der Europäischen Union
verbunden. Hierbei können vier Phasen unterschieden werden.
1. Die Europäischen Gemeinschaften (bis 31.10.1993)
a. Allgemeines
Bis zum Vertrag von Maastricht bestanden die „Europäischen Gemein-
schaften“ aus drei Gemeinschaften. Aus der Europäischen Wirtschaftsge-
meinschaft (EWG), die durch die Römischen Verträge vom 25.3.1957 (in
Kraft getreten am 1.1.1958) zusammen mit der Europäischen Atomge-
meinschaft (EAG bzw. EURATOM) gegründet worden war, sowie aus der
Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS), gegründet durch
den Pariser Vertrag vom 18.4.1951 (in Kraft getreten am 23.7.1952). Die-
se Gemeinschaften wurden in der Öffentlichkeit allerdings nicht separat
wahrgenommen, da nach dem Fusionsvertrag vom 8.4.1965
12
(in Kraft
getreten am 1.7.1967) mit der Kommission und dem Rat gemeinsame
Organe existierten. Nach dem Prinzip der begrenzten Einzelermächti-
gung durften die Gemeinschaften nur innerhalb der Grenzen der ihr zu-
gewiesenen Befugnisse und gesetzten Ziele tätig werden (heute Art. 5
Abs. 1 EUV). Eine Strafrechtskompetenz war ihnen nicht übertragen wor-
12
Vertrag zur Einsetzung eines gemeinsamen Rates und einer gemeinsamen Kommission
der Europäischen Gemeinschaften vom 8. April 1965.
95
den
13
, zumal das Strafrecht zum Kernbereich der nationalen Souveränität
gehörte. Daher hatte das europäische Recht nur einen geringen Einfluss
auf das deutsche Wirtschaftsstrafrecht.
b. Grundsätzliche Anforderungen an das nationale Strafrecht
Bereits damals war aber mit Blick auf die Grundfreiheiten offensichtlich,
dass diese auch auf das Strafrecht Einfluss haben. So konnte zB die An-
drohung von Strafe für den Im- oder Export von Waren in einem Staat
die Warenverkehrsfreiheit beeinträchtigen. Im Vordergrund stand daher
die Prüfung, ob die Anwendung des nationalen Strafrechts im grenzü-
berschreitenden Verkehr den Grundfreiheiten Rechnung trug. Der EuGH
leitete diesbezüglich bestimmte Anforderungen an das nationale Straf-
recht aus dem Primärrecht, den Gründungsverträgen, ab
14
. So legt das
Primärrecht erstens eine Obergrenze für das nationale Strafrecht fest, da
gemeinschaftswidriges Strafrecht nicht erlassen oder aufrechterhalten
werden darf. Dies bedeutet zum einen, dass eine Verhaltensweise, die
nach Gemeinschaftsrecht zulässig ist, nicht sanktioniert werden darf, es
sei denn die Einschränkung ist wegen eines legitimen Schutzinteresses
(zB zum Schutz geistigen Eigentums) gerechtfertigt
15
. Zum anderen folgt
daraus, dass unverhältnismäßige und diskriminierende Sanktionen gegen
die Grundfreiheiten verstoßen
16
. So darf etwa die Strafandrohung für ei-
nen italienischen Staatsangehörigen nicht höher als für einen Deutschen
sein. Zweitens ergibt sich aus dem Primärrecht eine Untergrenze für das
nationale Strafrecht, da die Mitgliedstaaten gemäß dem Grundsatz der
loyalen Zusammenarbeit ( Loyalitätspflicht, heute Art. 4 Abs. 3 EUV) auf
die Verletzung von Gemeinschaftsrecht mit wirksamen, verhältnismä-
ßigen und abschreckenden Sanktionen reagieren müssen
17
. Fehlen Sank-
tionen oder sind diese ineffektiv, ist dies rechtswidrig. Drittens gilt für die
13
Rosenau/Petrus, in: Vedder/Heintschel von Heinegg (Hrsg.), Europäisches Unionsrecht,
2012, Art. 83 AEUV Rn. 2.
14
Vgl. nur Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht, 7. Aufl. 2016, § 8 Rn. 14 ff.
15
Vgl. zu §§ 106, 108a UrhG EuGH EuZW 2012, 663 – Donner mit Anm. Sobotta.
16
Vgl. zu den Sanktionen im Falle der Nichtbeachtung eines Genehmigungsverfahrens EuGH
NVwZ 1993, 661 – Kraus.
17
Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht, 7. Aufl. 2016, § 8 Rn. 27 ff. m.w.N.
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