Osteuropa-institut



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OSTEUROPA-INSTITUT MÜNCHEN  Mitteilung Nr. 56
Er geht sogar soweit festzuhalten, dass nach der vielfältigen, von ihm einlässlich be­
schriebenen Mühsal des Wegs „das ‹Totenhaus› an der Kara uns fast wie das irdische 
Paradies erschien“,
299
 und Leo Deutsch (Lev Dejč), der ebenfalls Mitte der 1880er Jahre 
nach Kara kam, empfand ein „wahres Wohlbehagen, endlich an einem Orte angelangt 
zu sein, wo ich lange Jahre verbleiben sollte.“
300
  In die Erleichterung mischte sich die 
Neugierde über die künftigen Lebensumstände und, besonders, über das menschliche 
Umfeld – das Wiedersehen mit alten Kameraden aus den revolutionären Zirkeln und Be­
kanntschaften mit den Koryphäen jener Generation von Revolutionären, an denen sich 
die neu eintretenden „Politischen“ orientiert hatten und denen sie entsprechend mit Ehr­
furcht begegneten. Kon spricht von einem „Archiv“ der Revolutionäre.
301
 Trotz den ban­
gen Fragen nach dem Regime im Gefängnis, bei aller Ungewissheit über das Funktio­
nieren des dauernden Zusammenlebens mit den revolutionären Wegbereitern (ein Punkt, 
der bei Kon durchscheint) und trotz den zunehmenden politischen Differenzen innerhalb 
der revolutionären Bewegung bedeutete die gemeinsame ideologische Basis und das ei­
nigende politische Ziel in der Häftlingsgesellschaft gerade beim Eintritt in die Welt der 
Katorga viel – nämlich eine gewisse Vertrautheit. „Die Stimmung wird äußerst ange­
spannt,   das   Herz   beginnt   kräftig   zu   schlagen.   Jetzt   sehen   wir,   vielleicht,   die   Ge­
nossen“,
302
 schreibt Frejfel’d über die Erwartung kurz vor dem Öffnen der Gefängnistore 
in Akatuj. Leo Deutsch begrüßte gar den damaligen Starosten der „Politischen“ in Kara, 
Martynovskij, mit Namen, obwohl er ihn noch nie gesehen und nur von zurückkehr­
enden Verbannten auf dem Weg von ihm gehört hatte. Schon am ersten Abend fühlte er 
sich wie in einem „intimen Familienkreis“.
303
 Die Ankunft in der Katorga glich einem 
Einzug und vermittelte dem Neuankömmling sogleich erste Eindrücke vom sehr stark 
durch die Häftlinge selbst geprägten Umgang im Gefängnis, auch wenn das eigentliche 
Empfangskomitee durch den Gefängnisdirektor angeführt wurde, der gleich seine Prin­
zipien zum besten gab.
304
 Entwürdigende Szenen, wie sie aus den Erinnerungen an die 
Lagerwelten des 20. Jahrhunderts bekannt sind,
305
 gab es beim Eintritt ins Katorga-Ge­
fängnis in der Regel keine. Die Neuankömmlinge mussten nicht erst in katoržane ver­
wandelt werden; entsprechende Vorgänge (Kopfrasur, Kleidung, Fesseln) hatten bereits 
beim Antritt des Wegs nach Osten stattgefunden und wurden höchstens wiederholt. Je 
299 K
ON
 Pod znamenem, S. 259. Mit dem Begriff „mertvyj dom“ („Totenhaus“) spielt er auf Dostoevskijs 
berühmte Verarbeitung seiner Katorga-Erfahrung „Zapiski iz mertvogo doma“ („Aufzeichnungen aus 
einem Totenhause“) an; gemeint ist natürlich das Katorga-Gefängnis an der Kara.
300 D
EUTSCH
 Sechzehn Jahre, S. 198.
301 K
ON
 Pod znamenem, S. 258.
302 F
REJFEL

D
 Iz prošlogo, S. 77. Seine Vorfreude galt insbesondere dem Zusammentreffen mit Petr Jaku­
bovič.
303 D
EUTSCH
 Sechzehn Jahre, S. 197f. 
304 Vgl. K
ON
 Pod znamenem, S. 259f., F
REJFEL

D
 Iz prošlogo, S. 77, D
EUTSCH
 Sechzehn Jahre, S. 196.
305 Im nationalsozialistischen Konzentrationslager und im Gulag waren mit der Ankunft im Lager zentra­
le, demütigende und traumatisierende Vorgänge verknüpft; dazu gehörten, als Ausgangslage, die oft 
totale Orientierungslosigkeit nach dem Transport in geschlossenen Eisenbahnwaggons, sodann (in un­
terschiedlicher Reihenfolge) die „Hygienemaßnahmen“ (Entkleidung, Dusche, Rasur) und die „Selek­
tion“ zur Arbeit. Vgl. zum Gulag A
PPLEBAUM
 Gulag, S. 175–182; sie beschreibt die erwähnten Vorgän­
ge als Rituale.
66


4.1. Ankommen im „Archiv der Revolutionäre“
nach Zeit, Ort und herrschendem Regime lockerten sich vielmehr die Formen und muss­
ten die „Politischen“ beispielsweise im Gefängnis keine Fesseln tragen.
306
Oft bedeutete das Eintreffen neuer Häftlinge, dass das eingependelte Zusammenleben 
sich neu fügen musste; das hatte auch für die bisherigen willkommene Seiten, weil da­
durch die Monotonie für einige Zeit aufgebrochen wurde. Entsprechend groß war die 
Aufregung im Gefängnis, wenn ein neuer Transport angekommen war. Daran änderte 
sich im Laufe der Jahrzehnte nichts; auch Irina Kachovskaja und Antonija Pirogova wa­
ren, zwanzig Jahre nach Kon und Deutsch, überwältigt vom warmen Empfang, der ih­
nen im Frauengefängnis Mal’cevskaja bereitet wurde.
307
 Eine Geschlechterdifferenz mag 
sich in den konkreten Formen des Empfangs, nicht aber im Umstand selbst gezeigt ha­
ben.   Jedesmal   gab   es   neuen   Stoff   für   politische   und   andere   Diskussionen.   Neuan­
kömmlinge brachten ersehnte Neuigkeiten vom Etappenweg und der Außenwelt – vor 
allem: vom Gang der revolutionären Umtriebe – mit; nicht selten gelang es ihnen, ver­
botene Publikationen ins Gefängnis zu schmuggeln.
308
 
Der Eintritt ins Gefängnis hatte aber auch seine Kehrseite. Das, woran Kon und seine 
Gefährten explizit nicht dachten: nämlich dass sich nun die Tore zur Außenwelt für lan­
ge Zeit schlössen, trieb Irina Kachovskaja zu Beginn der Katorga-Haft stark um. Nach­
drücklich, aber feinsinnig beschreibt sie ihre Gefühle:
„Die erste Zeit der Haft ist immer die schwierigste. So auch jetzt – nach der Weite und 
der Bewegung auf dem Weg fiel jedem auch die verhältnismäßig freie Haft sehr schwer. 
Der Weg war zu Ende; die angespannte Erwartung des Neuen schlug um in das qualvolle 
Gefühl der Untauglichkeit [dafür], eingekerkert zu sein, in das unerträgliche  Bewusst­
sein, dass sich nun für den Verlauf einer langen Reihe von Jahren nichts ändern wird, 
dass es für uns keine äußeren Ereignisse geben wird, und dass, wenn das Leben blüht und 
in der Ferne lärmt, uns davon kein einziges Echo erreichen wird.“
309
Die Wegstrecke, die Kachovskaja zu Fuß zwischen Sretensk und Mal’cevskaja zurück­
gelegt hatte, gewinnt im Rückblick einen zusätzlichen Wert. Nach den Gefängnisaufent­
halten in St. Petersburg und Moskau und der dreiwöchigen Eisenbahnreise quer durch 
das Russische Reich bedeutete die Etappenstrecke in Transbaikalien eine Wiederbegeg­
nung mit der Landschaft und einen Geschmack von Freiheit. Ausführlich reflektiert sie 
über die Eingewöhnung in die Welt der Katorga und über die Schwierigkeit, mit dem 
Verlust der Natur und der Abwechslungen des Lebens aus ihrem Daseinshorizont um­
306 Vgl. D
EUTSCH
 Sechzehn Jahre, S. 196. Zum Regime vgl. die Ausführungen weiter unten in diesem Ka­
pitel.
307 K
ACHOVSKAJA
 Iz vospominanij, S. 74, und P
IROGOVA
 Na ženskoj katorge, S. 149.
308 Vgl.  K
ON
  Pod znamenem, S. 261, der u.a. neue Nummern der Zeitschrift  „Narodnaja volja“  mit­
brachte, und D
EUTSCH
 Sechzehn Jahre, S. 198f. Das ganze Gefängnis sei in Aufruhr versetzt worden, 
wenn ein neuer Transport angekommen sei, schreibt letzterer (S. 199). In seinem literarisierten Be­
richt stellt Jakubovič die Verhältnisse in „Schelai“ (Akatuj) so dar, als wäre er bis zum Eintreffen 
„Schtejngarts“ (wohl Frejfel’d) allein unter ugolovnye gewesen. Das entspricht zwar nicht den in an­
deren Erinnerungen, die von Mithäftlingen Jakubovičs verfasst wurden, dargestellten Umständen (so 
bei F
REJFEL

D
 Iz prošlogo; F
REJFEL

D
 Iz prošlogo (okončanie); O
RLOV
 Ob Akatue; Č
UJKO
 God). Es hebt 
jedoch die positive Bedeutung, die ein Neuankömmling für die Häftlingsgesellschaft haben konnte, 
umso stärker heraus. Vgl. M
ELSCHIN
 Im Lande 2, S. 60 (und folgende Abschnitte).
309 K
ACHOVSKAJA
 Iz vospominanij, S. 77.
67


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