1. Einleitung
1. Einleitung
1.1. Zum Thema
In der Parkanlage des Petersburger Troickij-Platzes liegt ein mächtiger, rotbrauner Find
ling vom Solovecker Archipel im Weißen Meer. Eine rechteckige Steinplatte dient ihm
als Sockel;
„uznikam Gulaga“, „den Häftlingen des Gulag“, ist in großen Lettern darauf
eingraviert. Das schlichte Mahnmal erinnert an die Opfer des sowjetischen Lagersys
tems. Der Stein ist nicht nur Symbol für eine Ungeheuerlichkeit, vor der die Darstel
lungskraft versagt; auch seine Herkunft ist nicht zufällig: Auf Solovki wurde entwickelt,
was sich zur Lagerwelt ausweitete. Nebenan am Flussufer steht ein stattliches, avant
gardistisches Wohngebäude. Vor mehr als siebzig Jahren war es für Mitglieder der All
sowjetischen Gesellschaft der ehemaligen politischen Zwangsarbeiter und Verbannten
gebaut worden – in Anerkennung der Opfer, welche die Kämpfer wider die Autokratie
der revolutionären Bewegung und, nach der Oktoberrevolution 1917, dem sowjetischen
Staat erbracht hatten.
1
Das stumme Nebeneinander der frühsowjetischen Wertschätzung für die Leiden der
inhaftierten und verbannten Revolutionäre einerseits und des Gedenkens an die Häft
linge der sowjetischen Lager seit dem Ende des Kommunismus anderseits offenbart der
Nachwelt eine beklemmende Gleichzeitigkeit: Während sich die alternden Revolutio
näre in den zwanziger und frühen dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts ihres
Kampfs gegen das Ancien Régime entsannen und in ihren Erinnerungen die Unbill der
Haft in Sibirien dokumentierten, existierten, ausgehend von Solovki, wieder neue For
men der Zwangsarbeit und wurde die Verbannung in entlegene Gegenden des Landes
erneut praktiziert.
2
Der Gulag
3
fristet im Gedächtnis Russlands noch immer ein randständiges Dasein;
Gedenkstätten sind rar.
4
Aber das ungebrochene wissenschaftliche Interesse am Stalinis
1
Die Gesellschaft, russisch
Vsesojuznoe obščestvo byvšich političeskich katoržan i ssyl’no-poselencev,
wurde 1921 in Moskau von namhaften Vertretern der bolschewistischen Elite gegründet (u.a. F. Ė.
Dzeržinskij, Ja. Ė. Rudzutak, Em. Jaroslavskij) mit dem Ziel, ehemaligen politischen Verbannten und
Zwangsarbeitern materielle Unterstützung zu bieten, aber auch Vorträge und Zusammenkünfte zu or
ganisieren sowie Publikationen herauszugeben (Zeitschrift „Katorga i ssylka“, Sammelbände mit Er
innerungen und Forschungen zur revolutionären Bewegung, den Gefängnissen, Verbannten und
Zwangsarbeitern des Zarenreiches, Buchreihen). Die Gesellschaft wurde 1935 im Zuge der Aus
schaltung der Bolschewiki der ersten
Stunde durch Stalin aufgelöst; vgl. in der Bol’šaja sovetskaja ėn
ciklopedija A
LEKSEEVA
, Obščestvo, S. 248.
2
Die Betonung der Schrecken der Vergangenheit in impliziter Differenzierung von der Gegenwart
kommt in der Einleitung zum Sammelband „Kara i drugie tjur’my Nerčinskoj katorgi“, den die Ge
sellschaft der ehemaligen politischen Zwangsarbeiter und Verbannten 1927 publiziert hat, beispielhaft
zum Ausdruck, vgl. K
ON
Predislovie, S. 13.
3
Der Ausdruck „Gulag“ besitzt eine doppelte Bedeutung. Die GULag ist das Akronym von
Glavnoe
upravlenie lagerej (Hauptverwaltung der Lager). Durch Aleksandr Solženicyns „Archipel Gulag“ hat
der Begriff eine weitere Dimension erfahren und steht stellvertretend für das Lagersystem, vgl.
S
TETTNER
, „Archipel GULag“, S. 19 mit Anmerkung 1. Wenn in dieser Arbeit von „Gulag“ die Rede
ist,
meint der Begriff das System; unter „GULag“ ist die Verwaltung zu verstehen.
4
Der Gedenkstein auf dem Troickij-Platz in St. Petersburg wurde in dieser Form erst im September
2002 errichtet, zwölf Jahre nachdem die Organisation Memorial an dieser Stelle bereits eine Gedenk
platte für die Opfer der Repression aufgestellt hatte (Auskunft von Irina Fliege, Memorial St. Peters
5