Osteuropa-institut



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1.1. Zum Thema
Nachdenken über Traditionen und Brüche, Kontinuität und Kontingenz über das Datum 
von 1917 hinaus Anlass.
1.2. Fragestellung und Aufbau
Diese Arbeit stellt die Frage nach dem Charakter und der Funktion der politischen Kat­
orga in ihren Mittelpunkt. Inwieweit lässt sich die Zwangsarbeit als disziplinierende 
Besserungsstrafe verstehen, inwieweit und in welcher Form stand der repressive Akt der 
Bestrafung im Vordergrund? Welche Bedeutung kam dabei der Häftlingsgesellschaft ei­
nerseits und der – vordergründig durch die Gefängnisadministration repräsentierten – 
Obrigkeit anderseits zu, welche Wechselwirkungen prägten deren Beziehung, wie stand 
es um die Machtverhältnisse in diesem Gefüge? Aufschluss darüber vermögen beson­
ders die Freiräume im Gefängnis zu geben – wie groß waren sie, wie wurden sie von 
den Häftlingen genutzt, von wem beherrscht? Die Welt der Katorga in Ostsibirien und 
auf Sachalin war eine „andere Welt“ – welche Bedeutung liegt in dieser Abgrenzung, 
worin äußerte sie sich und inwiefern stand die „andere Welt“ mit der Außenwelt in 
Kontakt? Zur Beantwortung dieser Leitfragen eignen sich Querschnitte am besten; sie 
stellen zugleich Indikatoren zur Beurteilung des Charakters und der Funktion der Kat­
orga dar. 
Ein erster Indikator ist der Weg der verurteilten Katorga-Häftlinge nach Osten mitsamt 
seinen Prämissen: dem Warten im Gefängnis, dem Aufbruch, der langen Reise. Welche 
Rolle spielte der Transport, die Bewältigung der Distanz zwischen den Gefängnissen im 
europäischen Russland und der Welt der Katorga für die Betroffenen und unter welchen 
Bedingungen fand diese Reise statt? Der Frage nach der Bedeutung des Ankommens 
und der Wirkung der äußeren Bedingungen auf die Gefangenen – der Gefängnisbauten 
und der diese umgebenden naturräumlichen Gestalt dieser „anderen Welt“ – gilt der 
zweite Schnitt. Der dritte fragt nach der Organisation des Alltags der (politischen) Häft­
linge im Gefängnis und dessen Grundbedingungen bis hin zum Speiseplan. Viertens sol­
len die Arbeitsmöglichkeiten, die im Grunde  per definitionem  zur Katorga-Strafe ge­
hörten, in ihren verschiedenen Phasen, insbesondere hinsichtlich des Stellenwerts der 
Arbeit für die Gefangenen, untersucht werden. Eng verknüpft mit dem dritten und vier­
ten Indikator ist der fünfte – das Verhältnis von politischen und kriminellen Häftlingen 
in der Katorga; wie begegneten sich die beiden Welten, inwiefern konstituierten sie ge­
meinsam die Häftlingsgesellschaft, wie wirkten sich neue Katorga-Strafkonzepte aus? 
Der sechste Querschnitt fragt nach der Bedeutung der Kultur- und Bildungsaktivitäten in 
der Katorga und, damit verbunden, nach den Drähten zur Außenwelt. Was bedeutete es 
für die Gefangenen, für die Obrigkeit und für den Strafvollzug insgesamt, wenn die 
Häftlinge das Lesen, Lernen und Lehren, die politische Propaganda und kulturelle Akti­
vitäten in den Mittelpunkt ihres Alltags stellten? Auf welche Weise waren die Sträflinge 
ans Geschehen außerhalb Ostsibiriens angebunden und welche Rolle spielten die Kon­
takte zur Außenwelt? Der siebente Schnitt schließlich will die Mechanismen der Kom­
munikation
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 zwischen der Häftlingsgesellschaft und der Administration, die Frage der 
18 „Kommunikation“ ist einer der Schlüsselbegriffe der kulturwissenschaftlichen Geschichtsschreibung 
und wird in einem breiteren Sinn verstanden als „verständigungsorientierte, symbolisch vermittelte In­
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OSTEUROPA-INSTITUT MÜNCHEN  Mitteilung Nr. 56
Proteste, Provokationen und der Fluchtversuche näher betrachten. Lässt sich die viel be­
schworene Dichotomie zwischen den beiden Seiten in ihrer Absolutheit rechtfertigen 
oder beruhten die Auseinandersetzungen auf einem Wechselspiel zwischen Insassen und 
Obrigkeit? Welche Motive standen hinter den Handlungsweisen der einen wie der ande­
ren Seite, und was sagen diese über die Machtverhältnisse aus? Welche Bedeutung kam 
in diesem Kontext der Flucht zu, und welche Hindernisse stellten sich ihr entgegen? 
Der Aufbau der Arbeit orientiert sich an dieser thematisch naheliegenden Reihen­
folge der einzelnen Querschnitte, wobei die Sachaliner Katorga wegen ihrer gänzlich an­
dersartigen Organisation in einem eigenen Unterkapitel kompakt behandelt wird. Die 
Annäherung an die im zentralen Kapitel „Die Welt der Katorga“ untersuchten Indikato­
ren erfolgt schrittweise, gleichsam von außen nach innen. Die spezifischen Fragen, die 
an die Quellen gerichtet werden, sollen im Spannungsfeld des ausgehenden Zarenreichs 
einerseits eingebettet und in der Entwicklung der Katorga anderseits situiert werden. 
Diese war, korrelierend mit den politischen Vorgängen, in den letzten Jahrzehnten des 
Imperiums mehrfachen Brüchen unterworfen, die sich auf die Haftumstände direkt aus­
wirkten. Daher ist der Behandlung der spezifischen Fragen zum einen ein Abriss über 
das Russische Reich im betrachteten Zeitraum vorangestellt, mit einem Schwerpunkt 
auf der Justizreform, dem aufkommenden Terror und den polizeilichen Antworten dar­
auf; die gescheiterte Revolution von 1905, die in vielem charakteristisch für Macht und 
Ohnmacht des Regimes ist, wird exemplarisch behandelt. Zum andern wird die „Topo­
graphie der Katorga“ – ihre geographischen, historischen und rechtlichen Aspekte – ent­
faltet. Teil dieser „Topographie“, gleich nach der Verortung der Katorga im Straf- bzw. 
Verbannungssystem, ist auch der Weg nach Osten, in dem die Annäherung an die Welt 
der Katorga durch die Bewältigung der Distanz direkt manifest wird. Daran schließt die 
„Welt der Katorga“ mit ihren Auffächerungen an. Der Schlussteil versucht die Fäden 
zusammenzuziehen und auf die leitenden Fragen zurückzukommen; Überlegungen zum 
Verbannungssystem insgesamt und zu den zeitgenössischen Debatten darüber sind darin 
eingeschlossen. Eine Einbettung in den Verbannungs- und Zwangsarbeitsdiskurs des 19. 
und frühen 20. Jahrhunderts, der auch die britische und französische Verbannungspoli­
tik umfassen würde, kann im Rahmen dieser Arbeit und ihrer Fragestellung jedoch nicht 
geleistet werden.
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Einem Blick über das Ende des Zarenreiches hinaus kann sich diese Studie allerdings 
nicht gänzlich verschließen – nicht nur am Petersburger Troickij-Platz. Ihn zu negieren, 
wäre insofern unehrlich, als diese Untersuchung aus einem Vorhaben hervorgegangen 
ist, das sich vergleichend mit der Zwangsarbeit im spätzarischen Russland und in der 
stalinistischen Sowjetunion beschäftigen sollte. Wenngleich dieses Projekt nicht reali­
teraktion“, so L
INDNER
 Zeichen, S. 1758. Lindners Definition schließt an Jürgen Habermas’ „Theorie 
des   kommunikativen   Handelns“   an,   die   Kommunikation   als   „verständigungsorientiert“   versteht 
(H
ABERMAS
  Theorie 2, bes. S. 184f., mit Verweisen zu H
ABERMAS
  Theorie 1). Haumann wendet ein: 
„Auch konflikt- oder gar gewaltorientierte Interaktion kann eine Form der Kommunikation sein“, vgl. 
H
AUMANN
 Geschichtsschreibung, S. 114. Davon geht auch diese Arbeit aus.
19 Dazu   weiterführend   die   Aufsätze   von   Jonathan   W.   Daly,   der   eine   gesamteuropäische   Kon­
textualisierung der russischen Strafpolitik versucht: D
ALY
 Punishment, S. 341–362, und D
ALY
 Political 
Crime, S. 62–100, sowie  R
ABE
  Widerspruch, S. 22–32, der neben den westeuropäischen Mächten 
auch das antike Rom berücksichtigt.
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