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1.4. Quellen
bannten erschien, werden zwar die andere, „offizielle“ Sicht und der „ruhige Ton des 
Beobachters“
34
 gewürdigt. Gleichzeitig wird aber die „Unvollständigkeit“ in der Beurtei­
lung der Ereignisse und Personen festgestellt und herablassend auf die „kleinbürgerliche 
Umgebung“ des Autors als Grund dafür verwiesen.
35
  Dem Bericht Čemodanovs ange­
fügt wurde daher ein weiterer Bericht eines Häftlings.
36
 Fragwürdiger als dies ist aller­
dings die Bemerkung, die Veröffentlichung sei ein „interessantes kollektives Werk“, in 
das auch Anregungen von Seiten der Mitglieder der Gesellschaft eingeflossen seien und 
das entsprechend vom Autor „vervollständigt“ worden sei, besonders in Bezug auf Be­
wertungen von Vorgängen.
37
 Die Eingriffe in den Text sind aber nicht rekonstruierbar. 
Diesem gewichtigen Vorbehalt zum Trotz – der im Folgenden stets problematisiert wird 
– ist die seltene Perspektive dieser Erinnerung es wert, berücksichtigt zu werden.
Nicht alle verwendeten Selbstzeugnisse von Beteiligten stammen aus den Beständen 
von „Katorga i ssylka“. Erste Erinnerungen wurden bereits Ende des 19. und zu Beginn 
des 20. Jahrhunderts publiziert, also noch unter dem alten Regime, so etwa Petr Jakubo­
vičs (L. Mel’šins) zweibändiges, an Dostoevskij geschultes Werk „V mire otveržen­
nych“ („Im Lande der Verworfenen“) oder Beiträge ehemaliger Häftlinge, die in Journa­
len des ausgehenden Zarenreiches wie „Russkoe bogatstvo“ erschienen – mithin unter 
anderen politischen Umständen. Dasselbe gilt für Leo Deutsch (Lev Dejč), dessen Er­
innerungen ebenfalls schon vor 1917 erschienen.
38
 Wie die Autoren, die nach der Revo­
lution von 1917 an die Öffentlichkeit traten, entstammten auch diese Memoiristen dem 
linken, revolutionären Lager. Angesichts der Fülle an greifbaren Memoirentexten be­
schränkt sich die Auswahl auf eine vergleichsweise kleine Zahl von Beiträgen, wobei 
Erinnerungen aus der Zeit zwischen 1880 und 1905, die als eine erste Phase der poli­
tischen Katorga im betrachteten Zeitraum gelten kann, und aus den Jahren nach der Re­
volution von 1905, die eine zweite Phase der Zwangsarbeit im ausgehenden Zarenreich 
darstellen, einigermaßen ausgewogen zu berücksichtigen waren.
39
 
Eine gänzlich andere Perspektive nehmen die Berichte jener ein, die als Reisende und 
Berichterstatter nach Ostsibirien und Sachalin gekommen waren.
40
  Das russische Ver­
bannungssystem in Sibirien stieß bereits im ausgehenden 19. Jahrhundert in der angel­
sächsischen Welt auf Interesse. Der britische Pastor Henry Lansdell hat in den 1870er, 
der amerikanische Journalist George Kennan in den 1880er und der britische Publizist 
Harry De Windt in den 1890er Jahren Ost- und Westsibirien sowie Sachalin besucht. 
34 Č
EMODANOV
 Katorga, S. 3.
35 Č
EMODANOV
 Katorga, S. 4.
36 Gewürdigt wird bei dem Bericht von T
IPUNKOV
 O tom, S. 130–156, die andere Perspektive und ins­
besondere die „kämpferische Sprache“, Č
EMODANOV
 Katorga, S. 5. Bezeichnend ist der Titel des Bei­
trags: „O tom, čto bylo“ („Über das, was war“), der bereits den Kontrapunkt zu Čemodanov markiert. 
In der zweiten Auflage des Bandes wurden weitere Texte aus der Sicht ehemaliger Katorga-Häftlinge 
angefügt, vgl. die Beiträge von P
IROGOVA
 Konec, S. 168–172, und Ž
UKOV
 Katorga, S. 173–181.
37 Č
EMODANOV
 Katorga, S. 5. 
38 D
EUTSCH
 Sechzehn Jahre.
39 G
ORJUŠKIN
 Predislovie, S. 8f., teilt anders ein: 1861–1895, 1895–1917. Zur Periodisierung der poli­
tischen Katorga vgl. Kap. 3.1.
40 Zum Reisebericht als historische Quelle vgl. G
OEHRKE
 Reisen, S. 29–45, bes. 34–38, und B
AUERKÄMPER
 
et al., Einleitung, S. 21–25.
15


OSTEUROPA-INSTITUT MÜNCHEN  Mitteilung Nr. 56
Alle   drei   haben,   mit   unterschiedlicher   Stoßrichtung,   ihre   Eindrücke   veröffentlicht.
41
 
Während Lansdell und De Windt weitgehend positive Schilderungen der Ssylka und Ka­
torga nach Hause brachten und die russischen Bemühungen zur Verbesserung der Lage 
der Häftlinge würdigten, ist Kennans Opus eine einzige Anklage an den zarischen Staat. 
Kennan hat damit – ähnlich wie Dostoevskij und Čechov von russischer Seite – die Vor­
stellungen von der Unmenschlichkeit des Verbannungssystems zu prägen und in die in­
nerrussische Debatte einzugreifen vermocht. Er wird in der heutigen Forschung über das 
russische Straf- und Polizeisystem wegen seiner pointierten Darstellung immer wieder 
der Undifferenziertheit bezichtigt.
42
  Allen Vorbehalten zum Trotz sind, hauptsächlich, 
Kennans Schilderungen und, als Kontrastfolie dazu, jene De Windts für die heutige For­
schung von einigem Quellenwert. Lansdells Bericht fällt aus dem Zeitfenster heraus. 
Verwiesen sei überdies auf die voluminöse Beschreibung Sachalins durch den britischen 
Gelehrten Charles H. Hawes, der zehn Jahre nach De Windt die Insel besuchte, For­
schungen betrieb und auch dem Verbannungssystem, allerdings praktisch ausschließlich 
den kriminellen Verbannten und Zwangsarbeitern, Aufmerksamkeit schenkte.
43
Eine zweite Sichtweise „von außen“ liefern zeitgenössische Berichte russischer Pu­
blizisten  und Schriftsteller. Vom vor allem als belletristischer Autor in der zweiten 
Hälfte des 19. Jahrhunderts hervorgetretenen Sergej V. Maksimov ist das dreibändige, 
auf eigenen Reiseeindrücken beruhende Opus „Sibir’ i katorga“ („Sibirien und die Kat­
orga“) zu erwähnen. Dieses Werk ist zwar von dokumentarischem Wert, tritt in dieser 
Arbeit aber hinter andere Beiträge zurück, weil Maksimovs Schilderungen vornehmlich 
die sechziger Jahre betreffen. Der russische Journalist Vlas M. Doroševič hat Ende des 
41 L
ANSDELL
 Trough Siberia; K
ENNAN
 Siberia I und II; D
E
 W
INDT
 Siberia.
42 Nicht  nur  K
ACZYNSKA
  Gefängnis,  S.  110,  relativiert  Kennans  Eindrücke  und  weist sie  seiner  Be­
einflussung durch die Erzählungen politischer Gefangener über bereits zurückliegende Ereignisse zu, 
auch A
DAMS
 Punishment, S. 4–6, der sich im Rahmen der Gefängnisreformen mit Kennans Schilde­
rungen befasst, verweist Kennan ziemlich barsch ins Reich der Übertreibungen. Die Kritik ist insofern 
angebracht, als Kennans Darstellung zum einen darunter leidet, dass er oft aus einem amerikanischen 
Blickwinkel argumentiert und das Verbannungssystem zu wenig in den russischen Kontext setzt. Zum 
andern hatte er gerade zum zentralen Ort der damaligen politischen Katorga, dem Gefängnis an der 
Kara (vgl. Kap. 3.1.), keinen Zutritt; was er schildert, beruht auf Erzählungen und Berichten von ehe­
maligen Häftlingen. Besonders interessant ist die Prämisse von Kennans ausgedehnter Reise zwischen 
St. Petersburg und Transbaikalien: Er trat sie mit dem festen Ziel an, den amerikanischen Kritikern 
die Vorzüge des russischen Verbannungssystems zu schildern; daher erhielt er in St. Petersburg einen 
staatlichen Freipass für seine Reise, ohne den die Recherchen und der Kontakt mit den zahllosen poli­
tischen Verbannten nicht möglich gewesen wäre. Erst durch seine Begegnungen mit den Betroffenen 
und den Augenschein in den Gefängnissen wandelte er sich vom Saulus zum Paulus. Die Rezeption 
von Kennans Werk und seinen Quellenwert behandelt M
ELAMED
 „Sibir’ i ssylka“, S. 56–66. Er ver­
gleicht die Wirkungsmacht des Reiseberichts mit Aleksandr Solženicyns „Archipel Gulag“ (ebd., S. 
56). Was den Quellenwert anbelangt, plädiert er dafür, dass heutige Ausgaben von Kennans Werk 
sorgfältig ediert und kommentiert werden müssen (ebd., S. 64). Genau daran mangelt es einer vor kur­
zem erschienenen, stark gekürzten deutschsprachigen Ausgabe von Kennans Opus (K
ENNAN
 Sibirien); 
nicht nur die Kürzungen werden nirgends begründet, auch die Einbettung in einen historischen Kon­
text fehlt. Da es sich um die momentan einzige lieferbare deutsche Übersetzung handelt, ist dies umso 
bedauerlicher.
43 Vgl. H
AWES
 Uttermost East, und die einführenden Bemerkungen von Collins, Introduction, S. xi–xii. 
Hawes schreibt über Sachalins Geschichte, aber auch über naturwissenschaftliche und ethnologische 
Aspekte der Insel.
16


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