2.3. Politische Gegnerschaft und der Niedergang der Staatsmacht
wirklichkeitsfremder Intelligenz und teils auf
dem an den zemstva beteiligten Adel grün
dende politische Gruppe bildeten die Liberalen. Ihr Kampf galt dem herrschenden Sys
tem und
den terroristischen Umtrieben, aber ihr Vorgehen blieb inkonsistent.
127
Mit der Revolution von 1905, deren Chance die Sozialdemokraten erst zu spät er
kannt hatten, weil sie noch mitten in ihrem Selbstfindungsprozess steckten, veränderte
sich das Zarenreich noch einmal.
128
Aber trotz dem Grundgesetz von 1906 und der darin
festgeschriebenen Einrichtung eines Parlaments (Duma) blieb das Spannungsfeld be
stehen; es verschärfte sich sogar. Durch die Modernisierung in der Wirtschaft war die
Gesellschaft einem Wertewandel und zunehmender sozialer Polarisierung unterworfen.
Das Zartum, das in Nikolaus II. den Höhepunkt der Schwäche erreicht hatte, war – seit
der Justizreform – im Grunde keine „Selbstherrschaft“ mehr, aber das autokratische
Selbstverständnis blieb bestehen.
129
Das offenbarte nur
umso mehr die Ohnmacht, die als
Macht ausgegeben wurde. Staat und Gesellschaft fanden längst nicht mehr auf einen
Nenner; aber die gesellschaftlichen Eliten fürchteten zugleich die Macht der Masse,
auch wenn sich die Zahl derer aus dem Kreis der Gebildeten, die sich auf die Seite der
Opposition schlugen, zusehends vergrößerte.
130
Die Reformen waren zwar auch an der
Bürokratie als einer der zentralen „Gewalten“ im Reich nicht spurlos vorübergegangen,
aber diese war gleichzeitig ein Hort der Korruption und ein Bollwerk der Traditionalis
ten. Rogger schreibt von einer „bürokratischen Anarchie“.
131
Das Zarenreich wurde nicht
straff von der Neva aus geführt; die Bürokratie verselbständigte sich in den Weiten des
Imperiums und
war in der Provinz, außer in den Städten, oft gar nicht präsent.
132
Nicht zuletzt traf dies auf die politische Polizei zu. Deren Ressourcen waren be
grenzt, und ihr Wirken konnte dadurch gar nicht ubiquitär sein. Im Zusammenspiel mit
den Ausnahmegesetzen von 1881, die – nur in einzelnen Provinzen in Kraft – es dem
Staat durch die Ausweitung der administrativen (also behördlich, nicht gerichtlich ange
ordneten) Strafmaßnahmen erleichterten, gegen politische Gegner mitunter nur schon im
Verdachtsfall vorzugehen, unterdrückte die Sicherheitspolizei zwar die revolutionäre
tig betont sie den inneren Wandel der terroristisch aktiven Revolutionäre, die zusehends abgehobener
von der Masse gewirkt und dabei gerade jene, die sie zu retten vorgegeben hätten, vergessen hätten.
Dem neuen Typus des Revolutionärs sei jedes Mittel recht gewesen; die Grenzen zwischen gewöhnli
cher Kriminalität und Terrorismus seien fließend geworden, was die Skrupellosigkeit begünstigt habe,
vgl. S. 8–13. Vertiefend dazu Anna Geifmans umfassende Studie (G
EIFMAN
Thou shalt kill). R
OGGER
Russia, S. 152, zitiert Lenin, der den Terror auch deshalb ablehnte, weil er zu kräfteraubend sei. Zu
den Studentenunruhen und den SR vgl. F
IGES
Tragödie, S. 181.
127 S
TÖKL
Geschichte, S. 592–595. Petr B. Struves Journal „Osvoboždenie“ („Befreiung“) war das publi
zistische Sprachrohr der russischen Liberalen; es erschien ab 1902 in Stuttgart und später in Paris.
128 R
OGGER
Russia, S. 149. Die Masse ließ sich nun, anders als noch zehn Jahre zuvor, mobilisieren. Die
Ereignisse von 1905 waren von den russischen liberalen Kräften getragen, die nicht eine bestimmte
Schicht, sondern die ganze Nation im Auge hatten, obwohl sie selbst, wie alle Parteien, sich zumeist
aus der
intelligencija rekrutierten, vgl. dazu und zur russischen Spielart des Liberalismus die Über
sicht bei H
ILDERMEIER
Revolution, S. 45f.
129 Vgl. R
OGGER
Russia, S. 19 und 132 sowie S
TÖKL
Geschichte, S. 560f. (zu Nikolaus II.).
130 Vgl. L
IEVEN
Police, S. 261, und D
ALY
Political Crime, S. 97
.
131 R
OGGER
Russia, S. 13 und 64. Zur Bürokratie vgl. auch den Überblick bei H
ILDERMEIER
Revolution, S.
46–50.
132 Vgl. B
ABEROWSKI
Autokratie, S. 770–772.
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