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OSTEUROPA-INSTITUT MÜNCHEN  Mitteilung Nr. 56
sozialen Elends und wegen ihres Ausschlusses von der politischen Mitgestaltung zuse­
hends radikalisierten.
120
Eine Hungersnot mit Seuchenfolge 1891/92 offenbarte die Unfähigkeit des Staates 
und seiner überforderten Bürokratie, mit einer kritischen Situation umzugehen. Nach ei­
nem Jahrzehnt der Desorientierung war dies auch ein Signal an die oppositionellen Krei­
se. Aber dem Versuch der sich in den Provinzen neu formierenden Revolutionäre, den 
Unmut auf dem Land gegen die Regierung in ihre Bahnen zu lenken, war erneut wenig 
Erfolg beschieden.
121
 
Auf politisch-theoretischem Feld deuteten sich, im Nachhall zur fehlgeschlagenen 
und politisch kontraproduktiven ersten Terrorwelle, seit der zweiten Hälfte der achtziger 
Jahre zwei miteinander verknüpfte Linien an. Die Arbeiter und überhaupt die indus­
trialisierte Wirtschaft erlangten die Aufmerksamkeit der revolutionären (und der links­
liberalen) Denker, und zugleich setzte die Rezeption des Marxismus ein, verbunden mit 
der Frage nach dessen Adaptation auf die russischen Verhältnisse.
122
  Die Zusammen­
arbeit zwischen der intelligencija, der Trägerin der revolutionären Bewegung, und den 
Arbeitern war mehrfach kompliziert; es galt das Vertrauen der Massen zu gewinnen und 
den Widerspruch zwischen den kurzfristigen Zielen der Arbeiter und den langfristigen 
marxistisch-theoretischen   der   Revolutionäre   aufzulösen   oder   zumindest   zu   re­
lativieren.
123
 Über den Weg dorthin bestand in der sozialdemokratischen Bewegung aber 
Uneinigkeit, die auch mit der Gründung der Russischen Sozialdemokratischen Arbeiter­
partei (RSDRP, kurz SD) 1898 nicht ausgeräumt wurde und jeweils von den beiden füh­
renden Köpfen, Vladimir I. Ul’janov (Lenin) und Julij O. Cederbaum (Martov)
124
, ver­
körpert wurde. Auf dem Parteikongress 1903 in London spalteten sich die Sozialdemo­
kraten in „bol’ševiki“ („Mehrheitler“) und „men’ševiki“ („Minderheitler“). Erstere, un­
ter Lenin, hielten eine straff geführte, zentralisierte und auf Berufsrevolutionäre ge­
gründete Parteistruktur für unabdingbar, während Martov und seine Fraktion eine de­
zentralisierte, demokratischere und also näher bei den Massen stehende Organisation 
befürworteten.
125
 Die schärfste Konkurrenz erwuchs den Sozialdemokraten in der Partei 
der Sozialrevolutionäre (PSR, kurz SR) unter der Führung von Viktor M. Černov. Die 
Partei, die sich auf die ländlich-bäuerlichen Schichten konzentrierte, lehnte den Terror 
als Mittel zum Zweck nicht ab. Die terroristischen Aktionen in den Jahren vor 1905 gin­
gen zur Hauptsache auf das Konto einer Minderheit der Sozialrevolutionäre und fanden 
unter Studenten einigen Widerhall.
126
 Eine sehr heterogene, teils auf bürgerlicher, aber 
120 Zur industriellen Entwicklung vgl. auch S
TÖKL
 Geschichte, S. 561–565, zur sich verändernden Stadt 
und der Lebenswelt der Fabrikarbeiter G
OEHRKE
 Alltag 2, bes. S. 290–302; zu den Pogromen R
OGGER
 
Russia, S. 204f.
121 So G
EIFMAN
 Introduction, S. 4. Vgl. auch R
OGGER
 Russia, S. 140–142. 
122 Die Agrarfrage stand im Zentrum der Debatten. Vgl. H
AUMANN
 Geschichte, S. 384f., H
ILDERMEIER
 Re­
volution, S. 39f., R
OGGER
 Russia, S. 141–144, S
TÖKL
 Geschichte, S. 582–585. Eine ausführliche Pro­
blematisierung kann an dieser Stelle nicht geleistet werden.
123 Insbesondere R
OGGER
 Russia, S. 144–146, weist auf dieses Dilemma hin.
124 Zu Cederbaum und Ul’janov vgl. S
TÖKL
 Geschichte, S. 585–591.
125 Vgl. H
AUMANN
 Geschichte, S. 385–387, und R
OGGER
 Russia, S. 147–150. Auf programmatische Unter­
schiede kann hier nicht eingegangen werden.
126 R
OGGER
 Russia, S. 151, und H
AUMANN
 Geschichte, S. 387. G
EIFMAN
 Introduction, S. 4, schreibt, dass 
der terroristische Kampf der Revolutionäre nicht der Stimmung im Volk entsprochen habe. Gleichzei­
32


2.3. Politische Gegnerschaft und der Niedergang der Staatsmacht
wirklichkeitsfremder Intelligenz und teils auf dem an den zemstva beteiligten Adel grün­
dende politische Gruppe bildeten die Liberalen. Ihr Kampf galt dem herrschenden Sys­
tem und den terroristischen Umtrieben, aber ihr Vorgehen blieb inkonsistent.
127
 
Mit der Revolution von 1905, deren Chance die Sozialdemokraten erst zu spät er­
kannt hatten, weil sie noch mitten in ihrem Selbstfindungsprozess steckten, veränderte 
sich das Zarenreich noch einmal.
128
 Aber trotz dem Grundgesetz von 1906 und der darin 
festgeschriebenen Einrichtung eines Parlaments (Duma) blieb das Spannungsfeld be­
stehen; es verschärfte sich sogar. Durch die Modernisierung in der Wirtschaft war die 
Gesellschaft einem Wertewandel und zunehmender sozialer Polarisierung unterworfen. 
Das Zartum, das in Nikolaus II. den Höhepunkt der Schwäche erreicht hatte, war – seit 
der Justizreform – im Grunde keine „Selbstherrschaft“ mehr, aber das autokratische 
Selbstverständnis blieb bestehen.
129
 Das offenbarte nur umso mehr die Ohnmacht, die als 
Macht ausgegeben wurde. Staat und Gesellschaft fanden längst nicht mehr auf einen 
Nenner; aber die gesellschaftlichen Eliten fürchteten zugleich die Macht der Masse, 
auch wenn sich die Zahl derer aus dem Kreis der Gebildeten, die sich auf die Seite der 
Opposition schlugen, zusehends vergrößerte.
130
 Die Reformen waren zwar auch an der 
Bürokratie als einer der zentralen „Gewalten“ im Reich nicht spurlos vorübergegangen, 
aber diese war gleichzeitig ein Hort der Korruption und ein Bollwerk der Traditionalis­
ten. Rogger schreibt von einer „bürokratischen Anarchie“.
131
 Das Zarenreich wurde nicht 
straff von der Neva aus geführt; die Bürokratie verselbständigte sich in den Weiten des 
Imperiums und war in der Provinz, außer in den Städten, oft gar nicht präsent.
132
 
Nicht zuletzt traf dies auf die politische Polizei zu. Deren Ressourcen waren be­
grenzt, und ihr Wirken konnte dadurch gar nicht ubiquitär sein. Im Zusammenspiel mit 
den Ausnahmegesetzen von 1881, die – nur in einzelnen Provinzen in Kraft – es dem 
Staat durch die Ausweitung der administrativen (also behördlich, nicht gerichtlich ange­
ordneten) Strafmaßnahmen erleichterten, gegen politische Gegner mitunter nur schon im 
Verdachtsfall vorzugehen, unterdrückte die Sicherheitspolizei  zwar die revolutionäre 
tig betont sie den inneren Wandel der terroristisch aktiven Revolutionäre, die zusehends abgehobener 
von der Masse gewirkt und dabei gerade jene, die sie zu retten vorgegeben hätten, vergessen hätten. 
Dem neuen Typus des Revolutionärs sei jedes Mittel recht gewesen; die Grenzen zwischen gewöhnli­
cher Kriminalität und Terrorismus seien fließend geworden, was die Skrupellosigkeit begünstigt habe, 
vgl. S. 8–13. Vertiefend dazu Anna Geifmans umfassende Studie (G
EIFMAN
 Thou shalt kill). R
OGGER
 
Russia, S. 152, zitiert Lenin, der den Terror auch deshalb ablehnte, weil er zu kräfteraubend sei. Zu 
den Studentenunruhen und den SR vgl. F
IGES
 Tragödie, S. 181.
127 S
TÖKL
 Geschichte, S. 592–595. Petr B. Struves Journal „Osvoboždenie“ („Befreiung“) war das publi­
zistische Sprachrohr der russischen Liberalen; es erschien ab 1902 in Stuttgart und später in Paris.
128 R
OGGER
 Russia, S. 149. Die Masse ließ sich nun, anders als noch zehn Jahre zuvor, mobilisieren. Die 
Ereignisse von 1905 waren von den russischen liberalen Kräften getragen, die nicht eine bestimmte 
Schicht, sondern die ganze Nation im Auge hatten, obwohl sie selbst, wie alle Parteien, sich zumeist 
aus der intelligencija rekrutierten, vgl. dazu und zur russischen Spielart des Liberalismus die Über­
sicht bei H
ILDERMEIER
 Revolution, S. 45f.
129 Vgl. R
OGGER
 Russia, S. 19 und 132 sowie S
TÖKL
 Geschichte, S. 560f. (zu Nikolaus II.).
130 Vgl. L
IEVEN
 Police, S. 261, und D
ALY
 Political Crime, S. 97.
131 R
OGGER
 Russia, S. 13 und 64. Zur Bürokratie vgl. auch den Überblick bei H
ILDERMEIER
 Revolution, S. 
46–50.
132 Vgl. B
ABEROWSKI
 Autokratie, S. 770–772.
33


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