OSTEUROPA-INSTITUT MÜNCHEN
Mitteilung Nr. 56
lähmende Bürokratie und die widersprüchliche Repressionspolitik, die in wechselseiti
ger Abhängigkeit voneinander standen, und auf der anderen Seite die zunehmende Wir
kungsmächtigkeit der Massen und der Versuch, sie zu politisieren, sowie die in der Zeit
vor und nach 1905 besonders gehäuften Terrorkampagnen.
Im Ereignis des 9. Januar 1905 findet dieses Spannungsfeld in fast monströser Weise
zu einem gemeinsamen Nenner. Denn Vater Gapon steht für jenen Kreis von Personen,
die, vom Staat beauftragt, Arbeit in der Grauzone von Opposition und staatlicher Gän
gelung oder aber direkt in den oppositionellen Gruppen leisteten. Dieser staatliche Ver
such der Kohäsion war im Laufe der 1890er Jahre vom Moskauer Chef der Si
cherheitspolizei, Sergej Zubatov, entwickelt worden,
aus der Erkenntnis heraus, dass an
gesichts der raschen Verbreiterung der Basis der revolutionären Bewegung die zuvor
leidlich gepflegten Methoden der Observierung von Oppositionszirkeln und der Zu
sammenarbeit mit Informanten allein nicht mehr zur Kontrolle der Regimegegner aus
reichten. So schleuste die Sicherheitspolizei Agenten in die Terrorbewegungen ein und
gründeten die verlängerten Arme der Sicherheitsstrukturen gewerkschaftsähnliche Zu
sammenschlüsse von Arbeitern. Dazu zählte auch die Petersburger Versammlung der
russischen Fabrikarbeiter, welcher der Priester Gapon vorstand.
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Dadurch ließen sich
Informationen gewinnen und gezielt Provokationen herbeiführen; aber es war ein Hoch
seilakt. Wie das Beispiel Gapon zeigt, drohte die Situation zunehmend außer Kontrolle
zu geraten, da die Emanzipation der Massen selbst innerhalb der staatlichen Sammelbe
cken gefährliche Züge anzunehmen begann.
74
Die Vermischung von Staatsgewalt und
Opposition bereitete zudem, je bewusster sie wurde, im Volk den Nährboden für Desil
lusionierung und Verlust jeglicher Gewissheiten. Der „Fall Azef“ – die Enttarnung des
Leiters der Terrorkampagnen der Sozialrevolutionäre als Spitzel der Sicherheitspolizei
1908 – markierte diesbezüglich einen Höhepunkt.
75
Der Schriftsteller Andrej Belyj hat
in seinem komplexen Roman „Peterburg“ diese Verwischung aller Grenzen und Si
cherheiten im revolutionären St. Petersburg des Jahres 1905 literarisch verarbeitet.
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Mit dem 9. Januar 1905 setzte die insgesamt wohl gewalttätigste und blutigste Peri
ode des ausgehenden Zarenreichs ein. Die sich ausweitenden Proteste gipfelten vorerst
im Februar in der Ermordung des Großfürsten Sergej Aleksandrovič, des Moskauer Ge
neralgouverneurs und Onkels des Zaren, und zwangen Nikolaus II. zu einer ersten Kon
zession. Diese – die Einrichtung einer Duma (Volksvertretung) – steigerte jedoch den
Unmut der Straße und des Bauernlandes, weil sie Arbeiter und
intelligencija durch den
Wahlzensus außen vor ließ. Bis in den Herbst hinein verbreiterte sich die Basis der Pro
teste; diese griffen auf die Marine über, erfassten die Eisenbahnen und die Nationali
73 D
ALY
Security Police, S. 224f., und F
IGES
Tragödie, S. 188f. S
TÖKL
Geschichte, S. 565, spricht im Zu
sammenhang mit den polizeilichen Gewerkschaftsgründungen von „Polizeisozialismus“.
74 H
ILDERMEIER
Revolution, S. 51f., R
OGGER
Russia, S. 208, und D
ALY
Security Police, S. 228. Für
E
NGELSTEIN
Revolution, S. 355, waren die Januar-Streiks keine Provokation. Die Proteste und die Re
aktion auf das Blutbad reflektierten jedoch die Stimmung in der Gesellschaft, die vom Scheitern des
Zaren überzeugt gewesen sei.
75 Zum „Fall Azef“ vgl. D
ALY
Security Police, S. 231, und S
TÖKL
Geschichte, S. 597. Vgl. auch die Mo
nographie von
Anna Geifman, zur raschen Orientierung: G
EIFMAN
Terror, S. 1–10.
76 Die russische Jahrhundertwende war in kultureller Hinsicht eine besonders fruchtbare Zeit; die Epo
che ist als „Silbernes Zeitalter“ („Serebrjanyj vek“) bekannt. Ein Überblick findet sich bei S
TÖKL
Ge
schichte, S. 618–626.
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2.1. Der 9. Januar 1905 und das Spannungsfeld des ausgehenden Zarenreichs
täten. Der Generalstreik vom Oktober brachte die vorläufige Wende, indem der Zar wi
derwillig dem vom ehemaligen Finanzminister Vitte ausgearbeiteten „Oktober-Mani
fest“ zustimmte, das eine Duma ohne ständische Restriktionen sowie Freiheitsrechte
vorsah und den Boden für eine Verfassung bereitete.
77
Im europäischen Teil des Reiches
erhoben sich aber die Bauern, und im Dezember kam es zu einem bewaffneten Aufstand
in Moskau. Die Situation war soweit außer Kontrolle geraten, dass die Regierung Ende
des Jahres 1905 in der gewaltsamen Niederschlagung der revolutionären Umtriebe die
einzige Möglichkeit sah, das stark angeschlagene Staatsschiff wieder auf festen Kurs zu
bringen. Die Repressionswelle wird vor allem mit dem 1911 ermordeten Ministerprä
sidenten Stolypin in Verbindung gebracht.
78
In den ersten Monaten des Jahres 1906 er
stickten militärische „Strafexpeditionen“ in den Peripherien des Reiches und entlang der
Transsibirischen Eisenbahn die Aufstände ohne Rücksicht auf Verluste. Parallel dazu
stieg die Zahl der Todesurteile, die im europäischen Vergleich wegen der Spezifik des
russischen Strafwesens sehr niedrig gewesen war, stark an.
79
Terror und Gegenterror
hielten sich die Waage.
80
Wenngleich das Regime unzimperlich und brutal gegen die Aufständischen vorging,
widerspiegelte die dadurch demonstrierte Gewalt – wie im Fall des 9. Januar 1905 –
mehr Ohnmacht als wahre Macht.
81
Die Herrschaft war zu angeschlagen, als dass sie im
Grunde dringend nötige Neuerungen hätte umsetzen können.
82
Die Autokratie war mit
den „Staatlichen Grundgesetzen“ von 1906, welche die Zuständigkeiten zwischen Kai
ser, Parlament und Ministern neu regelten und freiheitliche Rechte postulierten, an ihr
Ende gelangt, auch wenn von einer demokratischen Verfassung nicht die Rede sein
konnte.
83
Das Spannungsfeld, das sich in der Revolution von 1905 und in den folgenden
Jahren heftig entlud, war
das Resultat eines Prozesses,
der weit zurückreichte, wie Laura
Engelstein eindrücklich herausgearbeitet hat.
84
2.2. Die „Großen Reformen“ und die ersten Phasen des Terrors
Nach der verheerenden Niederlage Russlands im Krimkrieg 1856 stand die Autokratie
formell nicht zur Disposition; aber der neue Zar Alexander II. erkannte den Reformbe
darf. Der verkrustete Herrschaftsapparat und die ökonomischen und sozialen Grund
lagen des Reiches waren den Herausforderungen des 19. Jahrhunderts nicht mehr ge
77 S
TÖKL
Geschichte, S. 599–601, und Hildermeier, Revolution, S. 73f.
78 Vgl. D
ALY
Security Police, S. 228–230, und S
TÖKL
Geschichte, S. 602–604 (zu Stolypin).
79 Vgl. D
ALY
Security Police, S. 228f., D
ALY
Punishment, S. 349, und Merridale, Steinerne Nächte, S.
94f. Zum russischen Strafsystem vgl. Kap. 3.1.
80 D
ALY
Security Police, S. 229, und Merridale, Steinerne Nächte, S. 95.
81 Die sowjetische Historiographie hob die Repression hervor, ohne die Exzesse als möglichen Aus
druck
der Ohnmacht zu hinterfragen, vgl. Š
ČERBAKOV
Iz istorii, S. 69 und bes. 78.
82 Vgl. D
ALY
Security Police, S. 229.
83 Dies betont speziell Torke, Einführung, S. 183, in Abgrenzung zu Max Webers Diktum vom „Schein
konstitutionalismus“. Auch B
UTLER
Civil Rights, S. 7, spricht von der Transformation in eine konstitu
tionelle Monarchie.
84 E
NGELSTEIN
Revolution, S. 315–357, schlägt einen Bogen vom späten 18. Jahrhundert (Pugačev-Auf
stand) bis zur Revolution 1905. Zu den Traditionslinien und Spannungsfeldern auch S
CHRAMM
Staat,
S. 1300–1304.
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