OSTEUROPA-INSTITUT MÜNCHEN
Mitteilung Nr. 56
lagerte sich daraufhin allmählich nordwärts. Von der Mündung der Kara in die Šilka
wurden bis an den Oberlauf des Flusses insgesamt fünf Ortschaften mit Katorga-Ge
fängnissen errichtet, jeweils bei einer Mine (Ust’-Kara, Nižnjaja Kara als Zentrum,
Srednjaja Kara, Verchnjaja Kara, Amurskij). Ab 1873 wurden erste politische Häftlinge
an die Kara geschickt, ab Ende der siebziger Jahre wurde das Kara-Tal für etwas mehr
als eine Dekade zum alleinigen Zielort für politische Zwangsarbeiter.
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Sie blieben auch
hier in der klaren Minderheit gegenüber den Kriminellen, waren aber ab 1882 in einem
eigenen Gefängnis in Nižnjaja Kara untergebracht und, als Sicherheitsmaßnahme, der
Gendarmerie (und nicht der Gefängnishauptverwaltung) unterstellt.
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Für die weiblichen
„Politischen“ existierte ein gesondertes Gebäude. 1890 kehrte die politische Katorga in
den südlichen Nerčinsker Distrikt zurück; die Gleichbehandlung und Zusammenführung
der politischen und der kriminellen Häftlinge sollte, nach Meinung besonders des zu
ständigen Generalgouverneurs Korff, das Protestpotential der „Politischen“ verringern.
Diese wurden vorerst im neugebauten Gefängnis von Akatuj konzentriert, das als Mus
terstrafanstalt geführt werden sollte, und später auf weitere Gefängnisse der Region ver
teilt, namentlich auf Gornyj Zerentuj, Algači, Kutomara, Kadaj und das Frauengefängnis
Mal’cevskaja.
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Organisatorisch bildete die Nerčinsker Katorga eine Einheit. Die Unterstellung unter
die Kabinettsadministration des Bergwerksrayons endete 1869 mit der Überführung in
den Verantwortungsbereich des Innenministeriums, das durch den in Čita residierenden
Militärgouverneur von Transbaikalien vertreten wurde;
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dieser gehörte bis 1884 zum
Generalgouvernement Ostsibirien (Hauptstadt: Irkutsk) und danach zum neu eingerich
teten Generalgouvernement Priamurskij (Hauptstadt: Chabarovsk).
170
1879 wurde die
Katorga-Oberaufsicht in die neugeschaffene Gefängnishauptverwaltung (
Glavnoe up
ravlenie tjur’my, GTU) als dritte Abteilung eingegliedert.
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Im selben Jahr (1895) über
nahm eine eigene Verwaltung für die Nerčinsker Katorga mit Sitz in Gornyj Zerentuj
die Aufgaben, die bisher dem Militärgouverneur oblagen. Die Aufstände in den großen
Nerčinsker Gefängnissen 1910 bis 1912 führten abermals zu einer Reorganisation, in
deren Folge die Katorga-Verwaltung mit der Administration der
oblast’ von Čita verei
nigt wurde.
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166 P
LESKOV
Nerčinskaja katorga, Sp. 743, M
OŠKINA
Katorga, S. 19f., und P
RIBYLEV
Karijskaja katorga, Sp.
553. Laut K
ENNAN
Siberia II, S. 206, saßen „Politische“ bis 1879 hauptsächlich in Petersburg oder
Char’kov ein.
167 Vgl. K
LER
Organy, S. 145f. Die Gendarmerie war sowohl gegenüber der Irkutsker Gendarmeriever
waltung als auch gegenüber dem Militärgouverneur von Transbaikalien verantwortlich. Dadurch ent
stand eine Doppelstruktur, die als „Privilegierung“ der politischen Katorga beargwöhnt wurde. Vgl.
auch F
OMIN
Katorga, S. 16.
168 Vgl. P
LESKOV
Nerčinskaja katorga, Sp. 743f., Š
ČERBAKOV
Iz istorii, S. 83, sowie Nerčinskij kraj, S. 16f.
169 Vgl. K
LER
Organy, S. 143. Die Bergwerksarbeit für Häftlinge war (zu jener Zeit) davon nicht berührt,
weil zu wenige andere Arbeitskräfte zur Verfügung standen.
170 K
LER
Organy, S. 148f., bezeichnet diese Zuordnung als künstlich, da sich Čita und Umgebung viel
eher nach Irkutsk als nach Chabarovsk orientiert hätten. Vgl. auch A
MBURGER
Geschichte, S. 332.
171 Vgl. A
DAMS
Politics, S. 122 und 130. Die GTU war anfangs dem Innen-, ab 1895 dem Justizministeri
um zugehörig (vgl. Kap. 2.3. S. 31). Nach dem Wechsel der GTU ins Justizministerium blieb jedoch
das Innenministerium weiterhin für die „Politischen“ zuständig; die Koordination der Geldmittel für
die Gefängnissanierung
wurde aber verbessert, vgl. K
LER
Organy, S. 149f.
172 Dazu K
LER
Organy, S. 156f.
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3.1. Die Katorga im russischen Verbannungs- und Strafsystem
Seit seinen Anfängen hatte sich der Schwerpunkt des Verbannungssystems – und mit
ihm die Katorga – aus straf- und raumerschließungstechnischen Gründen immer weiter
ostwärts verlagert. Die westsibirischen Katorga-Gefängnisse, etwa in Tobol’sk (Zentrale
der Verwaltung des Verbannungssystems) waren sukzessive aufgegeben oder ver
kleinert worden. Neben dem Schwerpunkt im Nerčinsker Kreis saßen auch im Katorga-
Zentralgefängnis von Aleksandrovsk bei Irkutsk politische Häftlinge ein. Der östlichste
Vorposten befand sich seit 1869 bzw. 1886 (für „Politische“) auf der Insel Sachalin im
Fernen Osten.
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3.1.3. Die politische Katorga: Phasen und Dimensionen
Die Entwicklung der politischen Katorga korrelierte seit den Dekabristen mit den poli
tischen Ereignissen im Zarenreich. Die Kadenz, mit der wellenweise „Politische“ nach
Ostsibirien geschickt wurden, erhöhte sich zumal ab den 1860er Jahren, als die Span
nungen in der Gesellschaft, wie sie im vorangegangenen Kapitel dargestellt wurden, an
Virulenz stetig zunahmen. Im Zuge des ersten Höhepunkts des Terrors Ende der sieb
ziger und zu Beginn der achtziger Jahren kamen hauptsächlich Mitglieder der
„Narod
naja volja“ in die Katorga nach Ostsibirien; ab Mitte der neunziger Jahre handelte es
sich um eine heterogenere Mischung aus Aktivisten der neuen politischen Grup
pierungen (Sozialdemokraten, Sozialrevolutionäre, auch weiterhin Anarchisten und an
dere), die ihre Mitglieder eher im Arbeitermilieu rekrutierten.
174
Anhand der sozialen
Herkunft der
katoržane lässt sich die politische Katorga in drei zeitliche Etappen glie
dern: Die erste umfasste demnach zwischen 1826 und 1861 vorwiegend russische Ad
lige (und andere bessergestellte Personen), die an Verschwörungen gegen die Zarenherr
schaft beteiligt waren; die zweite betrifft die Zeit zwischen 1861 und 1895, in der sich
raznočincy und
intelligenty gegen die Staatsmacht auflehnten; in der dritten und letzten
ware die Hauptbetroffenen Proletarier (Arbeiter, einfache Soldaten und Matrosen).
175
Al
lerdings berücksichtigt diese Periodisierung nicht beispielsweise die große Zahl der pol
nischen Aufständischen, die nach dem gescheiterten Aufstand 1863 nach Ostsibirien
173 Vgl. K
ACZYNSKA
Gefängnis, S. 56. Das ebd. angegebene Jahr 1879 als Anfangspunkt der Sachaliner
Katorga ist falsch. K
ODAN
Katorga, S. 530, D
E
W
INDT
Siberia, S. 52, und vor allem G
ENTES
Sakhalin
Policy, S. 1–5, nennen 1868 bzw. 1869 als Startdaten des Strafkolonie-Vorhabens auf der fernöstli
chen Insel. Zu den Anfängen der Sachaliner Katorga äußert sich auch Č
ECHOV
Ostrov Sachalin, S.
140–142 (Anmerkung), und bemerkt, mit Sachalin sei in den sechziger Jahren angesichts der Miss
stände im Verbannungssystem die Hoffnung auf einen effektiveren Strafvollzug verbunden worden –
unter anderem wegen der Insellage (Fluchtgefahr gebannt und Hoffnung auf Rückkehr geraubt) und
wegen des Kolonisierungsaspekts.
174 Die überwältigende Mehrheit bestand nach 1905 aus Sozialdemokraten und Sozialrevolutionären, mit
stark abnehmender Tendenz des Anteils der letzteren. Vgl. R
ABE
Widerspruch, S. 321–325a, und
G
ORJUŠKIN
Predislovie, S. 12. Gleichwohl ist auffällig, dass vor allem die spätere sowjetische For
schung zu Ssylka und Katorga regelmäßig beim Leser den Eindruck zurücklässt, die RSDRP sei da
mals die einzige maßgebliche Kraft gewesen; die PSR wird gar nicht erwähnt oder abschätzig kom
mentiert, vgl. etwa Š
ČERBAKOV
Iz istorii, S. 84. Der ideologische Bannstrahl der frühen Sowjetunion
auf die PSR wirkte bis zuletzt.
175 Diese Periodisierung nimmt G
ORJUŠKIN
Predislovie, S. 9, vor. Zur Herkunft der „Politischen“ an der
Kara die Tabellen bei M
OŠKINA
Katorga, S. 92–94, und M
ARGOLIS
Analiz, S. 186f. (vgl. Anhang zu die
ser Arbeit S. 166).
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