Osteuropa-institut



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OSTEUROPA-INSTITUT MÜNCHEN  Mitteilung Nr. 56
1880er Jahre – genossen sie allerdings das Privileg, sich auf einem Wagen befördern 
lassen und im Etappengefängnis einen von den ugolovnye getrennten Raum erhalten zu 
können.
249
  Jakubovič betont die Bedeutung dieser bevorzugten Behandlung mehrmals 
und schreibt: „Wenn das alles nicht gewesen wäre, ich weiß nicht, wie ich alle Mühsal 
des   Weges   in   dem   krankhaften   Zustand,   in   dem   ich   mich   damals   befand,   ertragen 
hätte.“
250
  Schon wenige Jahre später galten für Melkov und Frejfel’d diese Privilegien 
nicht mehr; denn die Einführung der gleichen Behandlung politischer und krimineller 
Katorga-Sträflinge (1890) beschränkte sich nicht nur auf den Vollzugsort, wo sie sich in 
der Aufhebung des politischen Gefängnisses an der Kara manifestierte.
251
Bei vielen politischen Katorga-Häftlingen überwog die Neugier über die fremde Welt 
der Verbrecher (zumeist Mörder) und der Landstreicher (brodjagi). „Mit den Kriminel­
len   unterhielten   wir   sehr   gute   Beziehungen“,   schreibt   Melkov;   er   und   seine   Mit­
gefangenen hätten sich durch das Trenngitter auf dem Dampfer mit deren Sitten vertraut 
gemacht.
252
 Die Derbheit der Sprache (mit einem weiten Spektrum an Mutterflüchen und 
jeden   erdenklichen   anderen   Schimpftiraden)   und   der   Gesten   war   für   die   einen   de­
zenteren Umgang pflegenden „Politischen“ ebenso gewöhnungsbedürftig wie die hier­
archischen Verhältnisse zwischen den  ugolovnye. Viele von diesen waren bereits ein 
halbes Dutzend Mal oder mehr den Weg in die Katorga oder Ansiedlung gegangen; sie 
wurden „ivan“ (Pl. „ivany“) genannt und waren mit allen Wassern gewaschene, zu al­
lem bereite und fähige Häftlinge, aus deren Reihen oft der starosta, der artel’-Anführer, 
stammte, dem unter anderem bei der Essensbeschaffung für das Kollektiv der Kriminel­
len eine wichtige Rolle zufiel.
253
 
Der Blick der „Politischen“ grenzte mitunter an Verherrlichung und Idealisierung der 
vierschrötigen Verbrechertypen. Jakubovič nennt sie, bezugnehmend auf den Führer ei­
nes Bauernaufstands im 17. Jahrhundert, „Stenka Razins von heute“ und spricht von ei­
ner „poetischen Welt“, räumt aber selber ein, sie lange idealisiert zu haben. Bereits sein 
erster Versuch der Annäherung brachte eine große Enttäuschung.
254
 Kon beobachtet drei 
unterschiedliche Wahrnehmungsmuster der „Politischen“ gegenüber den Kriminellen. 
Die einen sahen in den Verbrechern ein Produkt der sozialen Bedingungen, das beson­
ders   unglücklich   leiden   müsse;   andere   stilisierten   sie   zu   Kämpfern   wider   die   herr­
schende Ordnung, und dritte nannten sie den Abschaum der Gesellschaft und erkannten 
bei ihnen keine menschliche Würde. Kon selbst empfand es als schwierig, mit ihnen in 
249 M
ELSCHIN
 Im Lande 1, S. 6 und 12f, und K
ON
 Pod znamenem, S. 227.
250 M
ELSCHIN
 Im Lande 1, S. 13.
251 Vgl. M
ELKOV
 Put’, S. 87, und F
REJFEL

D
 Iz prošlogo, S. 72f. Vgl. auch Kap. 4.3. (S. 86) und 4.4. (S. 
95).
252 M
ELKOV
 Put’, S. 84.
253 K
ON
 Pod znamenem, S. 229f. Der „ivan“ wurde im Gulag „urka“ genannt, vgl. A
PPLEBAUM
 Gulag, S. 
280–291.   Über   die   Bedeutung,  Funktionen   und   Sitten  besonders   der  arteli  der   Kriminellen   vgl. 
K
ENNAN
 Siberia I, S. 390–394, sowie K
ON
 Pod znamenem, S. 245, und K
ACZYNSKA
 Gefängnis, S. 83f.
254 M
ELSCHIN
 Im Lande 1, S. 14f., beschreibt, wie er durch ein Loch in einer Segeltuchwand die Masse 
der Kriminellen beobachten wollte; einer von ihnen drückte den Finger durch das Loch und verletzte 
Jakubovič beinahe. „[…] das war meine erste Enttäuschung von diesen Menschen, mit denen ich so 
viele Jahre zusammen leben sollte, der erste Beweis dafür, welch finstere Hölle diese geheimnisvolle 
Welt darstellte, voll unnützer Bosheit und sinnloser Grausamkeit, wie fremd sie mir war und wie sehr 
ich würde leiden müssen, wenn ich erst in ihr lebte.“, resümiert er bitter ebd., S. 15.
56


3.2. Der Weg nach Osten – Bewältigung des Raumes und Konstituierung der Katorga
Kontakt zu treten, pflegte aber nach einer Weile guten Umgang; auch bei ihm sind Ten­
denzen der Bewunderung und der „Verbrecherromantik“ für einzelne Gestalten – etwa 
für einen Kirchendieb oder für eine „Robin-Hood-Figur“ – nicht zu überlesen.
255
 Die po­
litischen Katorga-Verurteilten genossen durchaus den Respekt der Kriminellen, denen 
sie auch Unterstützung boten – sogar bei Fluchtvorhaben.
256
 Aber die Unterwürfigkeit, 
mit der ihnen die ugolovnye begegneten – diese sahen in ihnen ungeachtet des Schick­
sals, das sie miteinander teilten, „Herren“ –, und die Erwartungshaltung irritierten Kon 
und seine Gefährten, ebenso die mangelnde Würde und Moral besonders der unverheir­
ateten weiblichen Sträflinge.
257
3.2.5. Etappengefängnisse als Kristallisationspunkte
Den   Kristallisationspunkt   der   sich   konstituierenden   Katorga-Gesellschaft   bildete   der 
Etappenort. Hier kamen die Privilegien der „Politischen“ und das Gewohnheitsrecht der 
ugolovnye gleichermaßen zur Geltung und schieden sich die Sphären; hier rieben sich 
beide, mehr noch als unterwegs, mit dem Bewachungs- und Gefängnisapparat. Die Ta­
gesmärsche  waren  auf  den  Moment   ausgerichtet,  da   sich  die   Tore  zum   Etappenge­
fängnis öffneten.
„Bei der Annäherung an das Etappengefängnis beschleunigt die kobylka mehr und mehr 
ihren Schritt, und in den letzten Momenten läuft sie Hals über Kopf davon. Die Stärks­
ten,   Jüngsten   schlagen   sich   nach   vorn   durch,   die   ganze   Partie   drängt   und   rückt   zu­
sammen, wie ein Schwarm beim Einfliegen. Der Konvoi vermag deren Drang zum Tor 
der Etappe kaum aufzuhalten.  Aber nun öffnet sich das Tor, als die ganze Partie los­
stürmt und sich darum reißt, die besten Plätze im Etappengefängnis zu belegen.“
258
Melkovs Schilderung entspricht den Erfahrungen Kons, der die Inbesitznahme des Etap­
pengefängnisses durch die in der Regel mehr als hundertköpfige Sträflingsgruppe als 
eine exemplarische Szene des Existenzkampfs beschreibt.
259
 Die kobylka machte ihrem 
Namen alle Ehre. Die „Politischen“ hatten dagegen nichts auszurichten; ihnen kam die 
privilegierte Stellung zugute, die selbst nach 1890 in der einen oder andern Form weiter­
hin zum Tragen kam. Wenn die „Politischen“ nicht in einem abgetrennten Raum unter­
gebracht waren, zeigten sich  die Kriminellen  meist  großzügig und überließen ihnen 
Schlafplätze auf den nary, den Pritschen, die sich zuvor die durchsetzungsfähigsten und 
in der Hierarchie am höchsten stehenden ugolovnye ergattert hatten. Die Mehrheit der 
Verbannten mussten auf dem meist schmutz- und kotbedeckten Boden, zuweilen unter 
den Pritschen und neben der  paraša, dem Eimer für die Exkremente, schlafen.
260
  Die 
Kriminellen breiteten sich sogleich über die gesamte, in ihren Ausmaßen meist für die 
Zahl der Durchziehenden viel zu kleine Gefängnisanlage aus und ernährten sich von den 
erworbenen Lebensmitteln; beim Gefängniseingang, aber auch unterwegs konnten die 
255 K
ON
 Pod znamenem, S. 239f.
256 K
ON
 Pod znamenem, S. 242f.
257 K
ON
 Pod znamenem, S. 237.
258 M
ELKOV
 Put’, S. 89. Das Wort kobylka, eigentlich „Heuschrecken“ (Kollektivum), bezeichnet in der 
Sprache der Kriminellen die Gefangenenpartie; synonym war španka gebräuchlich.
259 K
ON
 Pod znamenem, S. 236. In gewohnt dramatischen Worten stellt M
ELSCHIN
 Im Lande 1, S. 30f., die 
Ankunft in der Etappe dar. Vgl. auch die Schilderung bei K
ENNAN
 Siberia I, S. 384.
260 M
ELKOV
 Put’, S. 89. Er und seine Mithäftlinge nahmen die Sonderbehandlung nur ungern in Anspruch.
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