Osteuropa-institut



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OSTEUROPA-INSTITUT MÜNCHEN  Mitteilung Nr. 56
eine Szenerie, als Ostjaken zugeworfene Stücke harten Brots aus dem Ob’ fischten und 
aßen oder in Säcke steckten.
238
 Ausführlicher und zivilisationskritisch äußert sich Kon. 
Er schildert die Begegnung mit einem Ostjaken, der den Begleitsoldaten offensichtlich 
kein Unbekannter war und von diesen an Bord geholt wurde, wo er von den Häftlingen 
Brot, Zwieback, Zucker, Tee und Tabak erhielt. Kon beschreibt den Mann mit dem 
Auge des neugierigen Fremden, bewundernd und mitleidig, fasst die schwierigen, durch 
das Vordringen der Russen im Gebiet zusätzlich erschwerten Lebensumstände dieses Jä­
gers und Fischers zusammen und beklagt ihn als „eines der Opfer unserer Kultur, un­
serer Zivilisation“.
239
  Weniger wohlwollend und bedeutend herablassender, ja verächt­
lich, äußert er sich in Transbaikalien über die Burjaten. Er bezeichnet sie als „Halbmen­
schen“ und „Wilde“, die schon deshalb, weil von ihnen bereits flüchtige katoržane und 
Aufständische erschossen worden waren, bei den Sträflingen auf Ablehnung stießen.
240
 
Doch nicht nur die indigenen Völker erheischten die Aufmerksamkeit der Durchzie­
henden, auch die russischen Siedler in der Taiga, am Rande der Poststraße nach Osten. 
Mit   der  Landschaft   und  dem   Raum   veränderte   sich   auch   die   Bevölkerung.  Melkov 
scheint beides beeindruckt zu haben – die gewaltige Ausdehnung der Landstriche und 
deren Wechsel: von Wasser zu Wald zu Steppen zu Bergen, in der sich die Dimension 
des Reiches spiegelte, und die unterschiedliche Bevölkerung westlich und östlich des 
Baikalsees.
241
 Die Empfindung, in eine „andere Welt“ vorzustoßen, drückte sich auf dem 
Weg nach Osten, in der Veränderung der Umgebung, unmittelbar aus.
3.2.4. Die soziale Konstituierung: „Politische“ und Kriminelle
In einer „anderen Welt“ befanden sich die Verbannten – katoržane und ssyl’nye – seit 
ihrem Aufbruch ohnehin. Auf der Reise nach Osten konstituierte sich nicht nur natur­
räumlich die „andere Welt“ der Katorga, sondern auch sozial. Jene, die zuvor in Einzel­
haft gesessen hatten, fanden sich in der Gruppe anfangs nur schlecht zurecht.
242
 Oft ei­
238 F
REJFEL

D
 Iz prošlogo, S. 71. Vgl. auch M
ELKOV
 Put’, S. 85.
239 K
ON
 Pod znamenem, S. 219f.
240 K
ON
 Pod znamenem, S. 254f. Kon schränkt seine negative Beschreibung dahingehend ein, dass er ein­
räumt, damals nichts vom erfolgreichen Kampf der Burjaten gegen die Russifizierung gewusst zu ha­
ben. Die Burjaten sind ein mongolischsprachiges Volk, das rund um den Baikalsee siedelt. Die östlich 
des Sees lebenden Burjaten, mit denen die Sträflinge Kontakt hatten, sind seit dem 17. Jahrhundert 
Buddhisten (zuvor Animisten), vgl.  F
ORSYTH
 History, S. 84f. M
ELKOV
 Put’, S. 98, berichtet überdies 
davon, dass es im Gebiet der Burjaten keine Almosen für die Verbannten mehr gegeben habe, so dass 
Kälte und Hunger sie geplagt hätten.
241 M
ELKOV
 Put’, S. 96f. Während er die russischen Siedler westlich des Baikalsees eher abschätzig beur­
teilt (vgl. ebd., S. 87), ist aus der Schilderung der Bevölkerung in Transbaikalien mehr Wohlwollen 
spürbar. Die transbaikalische Bevölkerung setzte sich demnach einerseits aus Altgläubigen (starovery
ihre Ursprünge gehen auf die Kirchenspaltung in der russischen Orthodoxie im 17. Jahrhundert zu­
rück), die schon unter Katharina II. hierher gekommen waren und einen abgeschiedenen, sehr traditio­
nellen Alltag pflegten, und anderseits aus indigenen Völkern zusammen, hier vor allem Burjaten und 
Tungusen. Letztere, die sich selbst Evenken nennen, gehören zur mandschurischen Sprachfamilie; ihr 
südostsibirisches Siedlungsgebiet deckt sich teilweise mit dem der turksprachigen Jakuten und der 
Burjaten. Vgl. F
ORSYTH
 History, S. 48f. Melkov hebt besonders hervor, dass unter den alten russischen 
Siedlern weder der Tabakgeruch noch die Flüche allgegenwärtig seien (im Unterschied zum Gebiet 
westlich des Baikal und zu den Kosakendörfern in Transbaikalien).
242 Vgl. M
ARTYNOVSKIJ
 Iz katoržnom položenii, S. 210.
54


3.2. Der Weg nach Osten – Bewältigung des Raumes und Konstituierung der Katorga
nigten sich die „Politischen“, die sich mitunter bereits im Gefängnis begegnet waren, 
schon auf der ersten Wegstrecke im Eisenbahnwagen auf die Bildung einer Genossen­
schaft (artel’). Jeder stellte das, was er besaß, zur allgemeinen Verfügung; „wir fühlten 
uns wie Brüder“, schreibt Kon.
243
  Die „Politischen“ stellten allerdings keine monoli­
thische   Gruppe   dar.   Während   Melkov   vorwiegend   soziale   Unterschiede   in   klassen­
kämpferischer Manier festhält und sich über kurzzeitig mitreisende adlige Verbannte be­
schwert, die er als „Dreckskerle“ bezeichnet,
244
 verweist Kon auf die Generationenunter­
schiede und -konflikte innerhalb der revolutionären Bewegung. Ältere Verbannte, auf 
die seine Gruppe in Tomsk stieß, bezeichnet er als „friedliche Propagandisten“; sich und 
seine Gefährten zählt er dagegen zu den kämpfenden Revolutionären.
245
 
Die politischen Katorga- und Ssylka-Verbannten blieben nicht unter sich. Auf dem 
Schiff, zuweilen bereits im Zug, trafen sie auf die kriminellen Häftlinge (ugolovnye), die 
eine zehn- bis hundertmal so große Gruppe bildeten. Die beiden Sphären waren aber 
weitgehend getrennt, und meistens pochten die „Politischen“ auch darauf, wie Frejfel’d 
beredt schildert. Nachdem er und vier weitere politische Katorga-Häftlinge, getrennt 
von den administrativen politischen Verbannten, bereits auf der Strecke Nižnij Novgo­
rod – Perm’ mit 600 Kriminellen in einer Kajüte untergebracht worden waren, setzten 
sie beim Begleitoffizier durch, für die nächste Strecke ab Tjumen’ eine getrennte Kabine 
zu erhalten.
246
  Bemerkenswert ist jedoch, dass selbst dieses krasse Missverhältnis der 
beiden Gefangenenkategorien anscheinend nicht zu groben Auseinandersetzungen führ­
te, wie sie in praktisch allen Gulag-Berichten als besonders traumatische Momente – be­
sonders für den Transport – geschildert werden.
247
 
Der Gegensatz der beiden Welten brach vor allem während der langen Monate des 
Fußmarsches auf, wenngleich dessen Organisation soziale Grenzen setzte. In Tomsk, 
dem Ausgangspunkt, wurden die Verbannten in zwei Gruppen geteilt: Aus ledigen und 
verheirateten   Kriminellen,   die   ihre   Familienangehörigen   in   Russland   zurückgelassen 
hatten, setzten sich die einen Gruppen („cholostaja partija“, „Ledigenreisegruppe“, ge­
nannt) zusammen, vorwiegend aus Familienvätern mit ihrer Gattin und ihren Kindern 
sowie aus unverheirateten Frauen die andern („semejnaja partija“  – „Familienreise­
gruppe“). Die „Politischen“ wurden ungeachtet dieser Kategorien auf einzelne allge­
meine Reisegruppen verteilt, aber nie mehr als zehn von ihnen auf eine, weil sie als zu 
renitent   galten.
248
  Zu  Kons   und  Jakubovičs   Zeiten  –   also  in   der  zweiten   Hälfte  der 
243 K
ON
 Pod znamenem, S. 211; Pluralform: arteli. Die Katorga-Häftlinge wären, ergänzt Kon, eigentlich 
privilegiert gewesen (wohl gegenüber den ssyl’nye), hätten diese Vorzugsbehandlung aber abgelehnt.
244 M
ELKOV
 Put’, S. 90. Er hält fest, dass er sich den Kriminellen näher gefühlt habe als diesen Adligen.
245 K
ON
 Pod znamenem, S. 222. Er konstatiert, wie wenig sich die beiden Generationen zu sagen hätten, 
da die einen den Kontakt zu Russland praktisch abgebrochen, die andern jenen zu Sibirien noch nicht 
aufgenommen hätten. Dies äußerte sich auch in heftigen Diskussionen über den revolutionären Kampf 
zwischen den „jungen“ und „alten“ Verbannten im Gefängnis von Tomsk, vgl. ebd., S. 225.
246 F
REJFEL

D
 Iz prošlogo, S. 69 und 71.
247 Exemplarisch dafür die Schilderung bei  S
OLSCHENIZYN
  Archipel Band 1, S. 456–460, mit dem Satz 
über die Kriminellen: „Sie sind keine Menschen, das hast du im Augenblick erfasst.“, ebd., S. 457. 
Ginsburg, Marschroute, S. 451–454, bes. 452, schreibt: „Damals, als der Laderaum von einer Menge 
halbnackter, tätowierter Körper und affenartiger Fratzen überflutet wurde, dachte ich, man hätte uns 
einer Schar tobender Irrer ausgeliefert.“
248 K
ON
 Pod znamenem, S. 227.
55


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