3.2. Der Weg nach Osten – Bewältigung des Raumes und Konstituierung der Katorga
Wirklichkeit gesehen werden muss, seine Richtigkeit.
196
Für spätere „Politische“, die
sich ab den 1890er Jahren vornehmlich aus der Arbeiterschaft rekrutierten, gilt er nur
mehr eingeschränkt. Gleichzeitig veränderte die Revolution von 1905 mit ihrer blutigen
Spur das Gefängniswesen
und die Katorga,
wie bereits angedeutet wurde, stark.
1906 erlebte Aleksandra (Sanja) Izmajlovič die Butyrka anders als Irina Kachovska
ja. Sie war aus Minsk gekommen, wo sie für ein misslungenes Doppelattentat zu Kat
orga verurteilt worden war, eine qualvolle Zeit voller Ungewissheiten verbracht hatte
und den Tod ihrer ebenfalls revolutionären Schwester (sie wurde hingerichtet) ver
kraften musste.
197
Zwar schildert sie die Zeit in Moskau als monoton und vom Bewusst
sein geprägt, es handle sich nur um eine Zwischenstation – auf dem Weg in die Ssylka,
in die Katorga.
198
Aber gleichzeitig gab es regen Austausch mit Mitgefangenen – die Bu
tyrka war auch ein Treffpunkt, wo Revolutionäre sich wiedersahen, wo man auf Per
sonen aus der Heimat stieß und vielleicht einen Brief eines Freundes erhielt. Beim Spa
ziergang im Hof und an den Abenden ließ sich mit den männlichen Häftlingen in Kon
takt treten – „wie Vögel in Käfigen“ (Izmajlovič) aus den Einzelzellen heraus. Da wur
den Zeitungsnachrichten und Erzählungen aus neuen Journalen durchs offene Zellen
fenster laut vorgelesen und Gesangskonzerte improvisiert.
199
Ähnlich äußert sich der pol
nische Revolutionär Feliks Kon, der 1885/86 in der Butyrka auf den Weitertransport
nach Kara wartete. Die Moskauer Gefängnisaufseher erschienen ihm, im Unterschied zu
jenen in Warschau, geradezu freundlich. Besonders vermerkt er, dass die Bestechlich
keit der Beamten auch im Umgang mit politischen Gefangenen selbstverständlich sei.
200
Kon und seine Mithäftlinge waren, ebenso wie die späteren „Politischen“, in Einzelzel
len untergebracht, deren Türen aber tagsüber offen standen, so dass auch damals zwi
schen den Häftlingen Austausch gepflegt wurde. Dieser beschränkte sich nicht nur auf
die Zellennachbarschaft; es gelang den
katoržane sogar, eine Nacht mit den administra
tiven Häftlingen, die in einem anderen Turm des Gefängnisses einsaßen, zu verbringen,
über Polen, Russland und den Terrorismus zu diskutieren und im Anschluss daran eine
Denkschrift über die polnische politische Bewegung „Proletariat“, der Kon angehörte,
zu verfassen.
201
„Das Gefängnisregime jener Zeit war nicht hart – uns waren gemeinsa
me Spaziergänge im kleinen Hof des Turmes gestattet“,
202
stellt Lev Frejfel’d auch für
den Winter 1890/91 in der Butyrka fest.
3.2.2. Vorbereitungen, Abschied und Aufbruch
Zur Ambivalenz des Aufenthalts kam, zumeist im Frühjahr, wenn das Eis auf den
großen Flüssen brach und der Schiffsweg frei wurde, die Ambivalenz des Aufbruchs.
Der Wunsch, die immer wieder beschriebene Eintönigkeit des Gefängnisalltags hinter
196 Vgl. A
DAMS
Politics, S. 5.
197 Darüber I
ZMAJLOVIČ
Iz prošlogo [Teil 1], S. 142–187.
198 I
ZMAJLOVIČ
Iz prošlogo [Teil 2], S. 147f.
199 I
ZMAJLOVIČ
Iz prošlogo [Teil 2], S. 144f.
200 K
ON
Pod znamenem, S. 201.
201 K
ON
Pod znamenem, S. 204–207.
202 F
REJFEL
’
D
Iz prošlogo, S. 67.
47