Osteuropa-institut



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OSTEUROPA-INSTITUT MÜNCHEN  Mitteilung Nr. 56
3.2.1. Die Erfahrung des Gefängnisses
Der Antritt der Reise bedeutete einen großen Einschnitt. Aber die Zäsur war keine plötz­
liche; sie zeichnete sich ab – durch die Gewissheit über die Strafe, mitunter durch die 
Verlegung von einer entfernteren westlichen Gouvernementshauptstadt oder aus St. Pe­
tersburg nach Moskau (meist in das Zentralgefängnis, die Butyrka) und am Ausgangsort 
der Reise durch das Warten auf den Aufbruch und die Vorbereitungen unmittelbar da­
vor. Die Häftlinge hatten oft bereits eine halbe Odyssee oder wenigstens zermürbende 
Monate oder Jahre in Gefängnis- oder Festungshaft hinter sich. Entsprechend unter­
schiedlich empfanden sie den Aufenthalt vor der Reise nach Osten. „In wenigen Tagen 
verloren wir unsere Naivität“
191
, schreibt Irina Kachovskaja über die erste Zeit als Kat­
orga-Häftling im Jahr 1908 im Petersburger Transportgefängnis, wo sie zusammen mit 
weiteren Revolutionärinnen auf die Weiterfahrt über Moskau in die Nerčinsker Katorga 
wartete. Sie zielt damit auf die Gefängnisrealität ab, auf die unpraktische, hässliche 
Kleidung
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  und  die   straffe  Ordnung,   welche   die   Lektüre   und  den  Briefkontakt   ein­
schränkte, den Tagesablauf bestimmte und von einem derben Ton geprägt war, und sie 
verweist implizit darauf, dass sie und ihre Mitstreiterinnen der Jugend eben entwachsen 
waren.
193
 Dem ersten Eindruck folgte die Bestätigung im Moskauer Novinskaja-Gefäng­
nis, wo es barscher und restriktiver zuging, so dass die jungen Gefangenen die später in 
der Katorga gepflegte Widerborstigkeit gegenüber der Verwaltung erprobten, indem sie 
sich – erfolgreich, aber mit der Folge zeitweiliger Karzerhaft
194
 – mit Hungerstreiks eine 
anständige (verbale) Behandlung und vor allem den Zugang zu Büchern erkämpften. Als 
nicht  weniger schwer erträglich empfand Kachovskaja  die  letzten  Wochen  vor dem 
Transport, die sie in der Butyrka verbrachte; die Zellengenossinnen, die ihre Katorga-
Strafe hier zu verbüßen hatten, ließen sie tagsüber allein zurück. Es herrschte Mono­
tonie, Freudlosigkeit und Dumpfheit. „Jede träumte von der Verschickung nach Sibirien 
als dem letzten Ausweg aus diesem höllischen Dasein“, hält sie fest, und sie empfand 
den Tag, an dem es „endlich“ auf die Reise nach Osten ging, als Erlösung.
195
 Die Beur­
teilung des Aufenthalts in Moskau war von den Umständen abhängig, mit denen die 
Häftlinge konfrontiert wurden, und von deren Wahrnehmung. Bruce Adams’ Hinweis 
darauf, dass die „Politischen“ in ihren Erinnerungen das russische Gefängnis stets so 
düster gezeichnet hätten, weil sie verwöhnte Kinder gewesen seien, mag für die frühen, 
aus den gutsituierten Schichten stammenden Revolutionäre durchaus gelten und hat vor 
dem Hintergrund dessen, dass die Gefängnisrealität in Relation zur sie umgebenden 
191 K
ACHOVSKAJA
 Iz vospominanij, S. 55.
192 Kleidung, „… um den Gefangenen einem Menschen möglichst unähnlich zu machen …“, K
ACHOVSKA
­
JA
 Iz vospominanij, S. 54. Kachovskajas Mitgefangene erhielt überdies Fußfesseln.
193 K
ACHOVSKAJA
 Iz vospominanij, S. 55–57.
194 Karzerhaft bedeutete reduzierte Nahrung und Isolierung in einem kleinen, dunklen und oft feucht-kal­
ten Raum. Die „Politischen“ im Novinskaja-Gefängnis waren, bis ihr Widerstand gegen die Obrigkeit 
eskalierte, gemeinsam mit Kriminellen in einer Zelle untergebracht. K
ACHOVSKAJA
 Iz vospominanij, S. 
59–62.
195 K
ACHOVSKAJA
 Iz vospominanij, S. 64. Im Glockenturm der Butyrka, wo Kachovskaja einsaß, war das 
Leben Moskaus fern – und doch so nah: „Wenige Schritte von uns entfernt lebte Moskau im lauten 
Leben eines Sommerabends; manchmal drang durch das spaltartige Turmfenster das Klingeln der 
Straßenbahn herein, über den Köpfen der Spaziergänger strahlten Sterne, es blühten Bäume in den 
Gärten, auf den Boulevards spielte Musik.“, ebd., S. 63.
46


3.2. Der Weg nach Osten – Bewältigung des Raumes und Konstituierung der Katorga
Wirklichkeit gesehen werden muss, seine Richtigkeit.
196
  Für spätere „Politische“, die 
sich ab den 1890er Jahren vornehmlich aus der Arbeiterschaft rekrutierten, gilt er nur 
mehr eingeschränkt. Gleichzeitig veränderte die Revolution von 1905 mit ihrer blutigen 
Spur das Gefängniswesen und die Katorga, wie bereits angedeutet wurde, stark. 
1906 erlebte Aleksandra (Sanja) Izmajlovič die Butyrka anders als Irina Kachovska­
ja. Sie war aus Minsk gekommen, wo sie für ein misslungenes Doppelattentat zu Kat­
orga verurteilt worden war, eine qualvolle Zeit voller Ungewissheiten verbracht hatte 
und   den   Tod   ihrer   ebenfalls   revolutionären   Schwester   (sie   wurde   hingerichtet)   ver­
kraften musste.
197
 Zwar schildert sie die Zeit in Moskau als monoton und vom Bewusst­
sein geprägt, es handle sich nur um eine Zwischenstation – auf dem Weg in die Ssylka, 
in die Katorga.
198
 Aber gleichzeitig gab es regen Austausch mit Mitgefangenen – die Bu­
tyrka war auch ein Treffpunkt, wo Revolutionäre sich wiedersahen, wo man auf Per­
sonen aus der Heimat stieß und vielleicht einen Brief eines Freundes erhielt. Beim Spa­
ziergang im Hof und an den Abenden ließ sich mit den männlichen Häftlingen in Kon­
takt treten – „wie Vögel in Käfigen“ (Izmajlovič) aus den Einzelzellen heraus. Da wur­
den Zeitungsnachrichten und Erzählungen aus neuen Journalen durchs offene Zellen­
fenster laut vorgelesen und Gesangskonzerte improvisiert.
199
 Ähnlich äußert sich der pol­
nische Revolutionär Feliks Kon, der 1885/86 in der Butyrka auf den Weitertransport 
nach Kara wartete. Die Moskauer Gefängnisaufseher erschienen ihm, im Unterschied zu 
jenen in Warschau, geradezu freundlich. Besonders vermerkt er, dass die Bestechlich­
keit der Beamten auch im Umgang mit politischen Gefangenen selbstverständlich sei.
200
 
Kon und seine Mithäftlinge waren, ebenso wie die späteren „Politischen“, in Einzelzel­
len untergebracht, deren Türen aber tagsüber offen standen, so dass auch damals zwi­
schen den Häftlingen Austausch gepflegt wurde. Dieser beschränkte sich nicht nur auf 
die Zellennachbarschaft; es gelang den katoržane sogar, eine Nacht mit den administra­
tiven Häftlingen, die in einem anderen Turm des Gefängnisses einsaßen, zu verbringen, 
über Polen, Russland und den Terrorismus zu diskutieren und im Anschluss daran eine 
Denkschrift über die polnische politische Bewegung „Proletariat“, der Kon angehörte, 
zu verfassen.
201
 „Das Gefängnisregime jener Zeit war nicht hart – uns waren gemeinsa­
me Spaziergänge im kleinen Hof des Turmes gestattet“,
202
 stellt Lev Frejfel’d auch für 
den Winter 1890/91 in der Butyrka fest.
3.2.2. Vorbereitungen, Abschied und Aufbruch 
Zur  Ambivalenz   des   Aufenthalts   kam,   zumeist   im   Frühjahr,   wenn   das   Eis   auf   den 
großen Flüssen brach und der Schiffsweg frei wurde, die Ambivalenz des Aufbruchs. 
Der Wunsch, die immer wieder beschriebene Eintönigkeit des Gefängnisalltags hinter 
196 Vgl. A
DAMS
 Politics, S. 5.
197 Darüber I
ZMAJLOVIČ
 Iz prošlogo [Teil 1], S. 142–187.
198 I
ZMAJLOVIČ
 Iz prošlogo [Teil 2], S. 147f.
199 I
ZMAJLOVIČ
 Iz prošlogo [Teil 2], S. 144f.
200 K
ON
 Pod znamenem, S. 201.
201 K
ON
 Pod znamenem, S. 204–207. 
202 F
REJFEL

D
 Iz prošlogo, S. 67.
47


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