OSTEUROPA-INSTITUT MÜNCHEN
Mitteilung Nr. 56
möglichkeiten oft fehlte. Katorga bedeutete daher primär lange Haftstrafen unter stren
gem Regime in abgelegenen (sibirischen) Gefängnissen.
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3.2. Der Weg nach Osten – Bewältigung des Raumes und Konstituierung
der Katorga
Jede Verbannungsstrafe, ob Ssylka oder Katorga, begann mit der Reise nach Osten. Die
Metapher vom Ort des Strafvollzugs als der „anderen Welt“ offenbarte ihre wahre Be
deutung in der Bewältigung der Wegstrecke von den Metropolen des europäischen
Russland – Moskau, St. Petersburg – in die west- und ostsibirischen und fernöstlichen
Verbannungsgebiete. Der Blick auf die Karte des Russischen
Reiches vermittelt nur eine
unzureichende, wenngleich beeindruckende Vorstellung von der räumlichen Dimension,
die in ihrer Ungeheuerlichkeit erst dann richtig zutage trat, wenn die Häftlinge sie
durchmaßen: zu Fuß, mit der Eisenbahn, per Schiff auf Flüssen und auf hoher See. Der
riesige russische Raum, der sich zwischen Moskau und dem Enisej, dem Nerčinsker Sil
berminendistrikt, der Mündung des Amur erstreckt, wurde erlebt, erfahren, erlaufen – in
allen Facetten: Wechselnde Landschaften, andere Sitten, unbekannte, indigene Völker
konfrontierten den Häftling mit einer neuen Realität.
Der Transport von der Heimat in die ferne Ungewissheit nimmt in den Erinnerungen
an die Gefängnis- und Lagerwelten des 20. Jahrhunderts einen zentralen Stellenwert ein,
worauf Karl Schlögel in der Beschreibung der Raumerfahrung der „Topographien des
Terrors“ hingewiesen hat – denn „Zwischen Berlin und Lodz sind es nur rund 400 Ki
lometer, aber in Wahrheit überschritt der Transport eine Grenze der Zivilisation.“
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Wenngleich die Ausmaße an Grausamkeit auf dem Weg in die „Maschinen des Terrors“
(Gerhard Armanski) des vergangenen Jahrhunderts, nach den Quellen zu urteilen, ande
re waren,
187
fehlte der Reise im geschlossenen Eisenbahnwagen jedoch die unmittelbare,
augenscheinliche Wahrnehmung der gewaltigen Distanz. Denn nicht nur die Strapazen
der Reise an sich machten im zarischen Verbannungssystem den Einstieg in die Verbü
ßung der Strafe aus, auch der demonstrative Eintritt in eine tatsächlich „andere Welt“,
die sich durch die Bewältigung der Distanz und die Durchstreifung des Reiches auftat,
trug seinen Teil dazu bei. Gleichzeitig konstituierte sich auf dem Weg nach Osten eine
weitere Dimension dieser „anderen Welt“: der neue soziale Raum, der auf das Leben im
Katorga-Gefängnis vorbereitete.
188
Waren nach der Verhaftung und während der Zeit des
185 Vgl. auch Š
ČERBAKOV
Iz istorii, S. 82.
186 S
CHLÖGEL
Im Raume, S. 432; ebd. auch zur Sowjetunion: „Zwischen Leningrad und den Solowetzker
Inseln im Weißen Meer ist es nur eine Nachtfahrt, aber es ist eine Fahrt hinaus in die Weiten des Ar
chipel Gulag.“ Vgl. auch A
PPLEBAUM
Gulag, S. 160, wo die Autorin zum Transport der Häftlinge
in die
Lager schreibt: „In
some senses, it was the most inexplicable aspect of life in the Gulag.“
187 In der Gulag-Literatur wird oft – in nur unzureichender Differenzierung – die Situation der Verbann
ten des Zarenreichs, besonders der
katoržane, mit derjenigen der Gulag-Häftlinge verglichen.
A
PPLEBAUM
Gulag, S. 159f., bedient sich dieser Vergleichsmöglichkeit bei der Darstellung des Trans
ports ins Lager ebenso wie Aleksandr Solženicyn, der die Schilderungen Petr F. Jakubovičs (L.
Mel’šin) zitiert und mit der Bemerkung „Was für eine unglaubwürdige Zeit!“ kommentiert,
S
OLSCHENIZYN
Archipel Band 1, S. 454f.
188 Zur Distinktion im sozialen Raum und zur Konstitution (sozialer) Räume generell vgl. den hervor
ragenden Überblick bei S
CHROER
Räume, S. 47–106 (u.a. Simmel, Bourdieu).
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