OSTEUROPA-INSTITUT MÜNCHEN
Mitteilung Nr. 56
1845 wurde für die Katorga in einem eigenen Abschnitt eine differenzierende Klassifi
zierung vorgenommen. Unterschieden wurde zum einen nach der Härte des Vollzugs;
Bergwerksarbeit galt als die schwerste Strafe, danach folgten Festungs- und Fabrikar
beit. Zum andern wurden sieben Stufen des Strafmaßes – von unbegrenzter Bergwerks
arbeit (was in der Praxis eine zwanzigjährige Katorga-Strafe bedeutete) bis zu vier- bis
sechsjähriger Katorga in Fabriken – festgelegt, die (außer bei Adligen) um eine eben
falls variierende Anzahl Peitschenhiebe (mit dem
plet’) sowie um die Brandmarkung
mit den Buchstaben „KAT“ auf Wangen und Stirn ergänzt wurde. Zehn Monate zählten
als ein ganzes Katorga-Jahr. Mit der Katorga-Strafe erloschen überdies sämtliche Rechte
des Verurteilten
(lišenie prav sostojanija), was einem „zivilen Tod“ gleichkam.
156
Ver
bunden war damit lebenslängliche Ansiedlung
(poselenie) in Sibirien nach Verbüßung
der Strafe. Niemand musste die gesamte Haftzeit auch tatsächlich im Gefängnis an den
Vollzugsorten verbringen. Nach der Verbüßung eines Teils der Strafe konnten (und
mussten) sich die Häftlinge in der Umgebung der Gefängnisse in Hütten ansiedeln, un
terlagen aber weiterhin ihrer Strafe („Freies Kommando“).
157
1863 wurde die zwingend
mit der Katorga einhergehende Körperstrafe aufgehoben; 1869 verschob sich die Kator
ga definitiv zur Hauptsache ins östliche Sibirien und, neuerdings, zusätzlich auf die In
sel Sachalin.
3.1.2. Die politische Katorga: Die Schauplätze Ostsibirien und Sachalin
Eine eigene Gruppe innerhalb des Verbannungssystems bildeten die aus politischen
Gründen verurteilten Personen. Politische Delinquenz war im 19. Jahrhundert in Russ
land breit definiert; jegliche Äußerungen und Handlungen gegen die Autokratie, ja blo
ße Verdachtsmomente, galten als subversiv und waren harten Strafen – mitunter, wie im
Fall der Todesstrafe, härteren als für „gewöhnliche“ Verbrechen – unterworfen. Im Zuge
der Justizreform von 1864 wurden Verbrechen gegen den Staat gar als gefährlicher als
andere Vergehen gewertet; sie waren, wie erwähnt, auch nicht den neugeschaffenen Ge
schworenengerichten zugeordnet. Mit der Revision des Strafgesetzbuches 1903 wurde
der Katalog der unter Strafe stehenden, im weiteren Sinn politischen Tätigkeiten ausge
weitet, nachdem der Spielraum des Sicherheitsapparats bereits durch die Aus
nahmegesetze von 1881 größer geworden war.
158
Als bedeutsames Instrument des Regi
mes zur zeitweiligen Ausschaltung politischer Gegner erwies sich die administrative, al
156 Für die vorangegangenen Ausführungen vgl. Strafgesetzbuch von 1845, 1. Abteilung, 2. Kapitel, Art.
21 (Stufen der Katorga-Strafe), Art. 27 (
plet’), Art. 28 (Brandmarkung, russ.
klejma), Art. 24–26
(
lišenie prav sostojanija) (Uloženie, S. 177–179). Letzteres wirkte sich je nach Stellung in der Gesell
schaft unterschiedlich aus. Es bedeutete den Verlust des Ranges, der persönlichen Rechte und die
Auflösung der Rechtsbeziehungen wie etwa der Ehe; diese blieb nur bestehen, wenn die Angehörigen
dem Sträfling an den Ort der Katorga folgten; die Gattin und die Kinder verloren die Rechte aber in
keinem Fall, vgl. Art. 26 und
die Zusammenfassung bei K
ODAN
Katorga, S. 529.
157 K
ACZYNSKA
Gefängnis, S. 90f., W
OOD
Crime, S. 222–224, D
ALY
Punishment, S. 343 und 351, und
K
ODAN
Katorga, S. 529f. Das „Freie Kommando“ kam auch den Gefängnisverwaltern entgegen, die
froh waren, wenn sie nicht mehr für die Häftlinge sorgen mussten, vgl. K
ACZYNSKA
Gefängnis, S. 96f.
Vgl. auch Kap. 4.5. (S. 102).
158 Vgl. D
ALY
Political Crime, S. 69–72. Vgl. die Ausführungen in den vorangegangenen Kap. 2.2. (S.
25) und 2.3. (S. 31).
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3.1. Die Katorga im russischen Verbannungs- und Strafsystem
so durch eine Behörde verhängte, politische Verbannung; ihr unterlag der größte Teil
der aus politischen Gründen nach Sibirien Verschickten.
159
Zumindest bis zur Gesetzesanpassung 1900 prägten die Kriminellen das Ver
bannungssystem;
160
die Zahl der politischen Verbannten war, relativ dazu, gering. In be
sonderem Maß
traf das auf die politische Katorga zu. Ebenso
wie bei der Ssylka in ihren
verschiedenen Formen praktisch von Anbeginn an stets auch eine politische Kompo
nente mitgespielt hatte – das Beispiel von Uglič aus Boris Godunovs Zeiten steht auch
dafür –, diente die Katorga als zweithöchstes Strafmaß zur Ahndung etwa der Be
teiligung an Aufständen.
161
Ein Einschnitt erfolgte mit der Verurteilung von 124 am De
kabristenaufstand von 1825 beteiligten Personen aus dem russischen Adel zu langjäh
rigen Zwangsarbeitsstrafen. Das Jahr 1826, das Datum der Ankunft der Dekabristen in
Ostsibirien, wurde in der sowjetischen Historiographie als der eigentliche Beginn der
politischen Katorga als Repressionsinstrument beschrieben – entsprechend der hohen
Bedeutung, die dem Dekabristenaufstand innerhalb der „Befreiungsbewegung“
(osvobo
ditel’noe dviženie) des 19. Jahrhunderts zugemessen wurde.
162
Wenngleich das zu einem
Übergewicht an Forschungen darüber geführt hat, ist unbestritten, dass das Regime die
Zwangsarbeit zunehmend als geeignetes Mittel zur Ausschaltung politischer Gegner be
trachtete und der Osten Sibiriens als Vollzugsort in den Vordergrund rückte.
Die Hochrangigsten der zu Katorga-Strafe verurteilten Dekabristen waren 1826 als
erste offizielle politische Sträflinge in den Kreis Nerčinsk
(Nerčinskij gornyj okrug) ge
kommen.
163
Zu Beginn des 18. Jahrhunderts war in dem an Silbervorkommen reichen,
abgelegenen Gebiet jenseits des Baikalsees (Transbaikalien) mit der Ausbeutung be
gonnen worden.
164
Zwangsarbeiter, zwangsverschickte Bauern und zur Mitarbeit ver
pflichtete lokale Siedler betrieben unter harschen Bedingungen Bergwerke und Silber
schmelzanlagen, die Kabinettsbesitz waren und dadurch direkt dem Zaren unterstanden;
unter den Gefangenen sollen sich bereits einige „geheime“ politische Häftlinge be
funden haben, über deren Existenz aber kaum etwas bekannt ist.
165
Bis zu Beginn der
1870er Jahre entwickelte sich der Silberminendistrikt (Hauptort: Nerčinskij Zavod) mit
den Gefängnissen von Akatuj, Algači, Aleksandrovskij Zavod und Pokrovskoe zum be
vorzugten und berüchtigten Vollzugsort für politische Katorga-Häftlinge. Bereits 1838
waren nördlich des Kreises Nerčinsk, im Tal der Kara, eines in die Šilka mündenden
Flusses, Goldvorkommen entdeckt worden. Das Interesse der Kabinettsverwaltung ver
159 Vgl. R
ABE
Widerspruch, S. 149f., und für die Zeit nach 1905 Š
ČERBAKOV
Iz istorii, S. 85.
160 Vgl. Fußnote 152.
161 In diesem Zusammenhang sind auch die religiösen Auseinandersetzungen der zweiten Hälfte des 17.
Jahrhunderts zu erwähnen (Kirchenspaltung –
raskol); der Protopope Avvakum, der Sprecher der Alt
gläubigen, wurde nach Sibirien verbannt. Vgl. W
OOD
Crime, S. 228.
162 Vgl. dazu D
VORJANOV
V sibirskoj, S. 10f. sowie das entsprechende Kapitel ebd., bes. S. 37–59. Eben
falls G
ORJUŠKIN
Predislovie, S. 9.
163 Vgl. die Karte im Anhang (S. 159).
164 Vgl. dazu und zur folgenden räumlichen Entfaltung des Katorga-Gebiets in Ostsibirien das Kartenma
terial im Anhang. Jener Teil Ostsibiriens östlich des Baikalsees bis zur heutigen russisch-chinesischen
Grenze am Amur heißt auf Russisch
Zabajkal’e und wird im Deutschen mit „Transbaikalien“ über
setzt.
165 Vgl. P
LESKOV
Nerčinskaja katorga, Sp. 740f., G
ORJUŠKIN
Predislovie, S. 9, und K
ACZYNSKA
Gefängnis,
S. 107.
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