OSTEUROPA-INSTITUT MÜNCHEN
Mitteilung Nr. 56
Bewegung.
133
Aber ihr Vorgehen war oft inkonsistent.
134
Die Repression äußerte sich vor
allem als Willkür, was ihre Härte im jeweiligen Fall keineswegs relativierte, wohl aber
die Macht des Polizeiapparats.
135
Am Beispiel Zubatovs, des Chefs der Moskauer Si
cherheitspolizei bis 1904, und seiner Eindämmungsversuche lässt sich die schillernde
Dimension der polizeilichen Arbeit im Spannungsfeld von Staat und Gesellschaft illus
trieren; Polizeiarbeit war mehr als Repression. Anderseits zeigten die Jahre vor und
nach 1905 auch die Fähigkeit zum brachialen Vorgehen. Nur mehr zur Schau gestellte
Härte vermochte in den Augen der Herrschenden die Entladung des bis ans äußerste
strapazierten Spannungsfelds zu verhindern. Der Erste Weltkrieg verschob das Schwer
gewicht an die Grenze und entspannte die Situation im Innern – für einen trügerischen
Moment, bis die Kraft, zurückgeschleudert, dem Reich den letzten Stoß verpasste und
mit der Februarrevolution 1917 das morsche Gebälk zusammenbrach.
133 Zu den Ausnahmegesetzen vgl. R
ABE
Justiz, S. 1544f. B
ABEROWSKI
Justizwesen, S. 164, spricht von
Hilflosigkeit, die sich in den Gesetzen gespiegelt habe.
134 Vgl. dazu D
ALY
Autocracy, S. 10f., L
IEVEN
Police, S. 257–259, und D
ALY
Political Crime, S. 87f. und
94. Der ökonomische und soziale Status des Verfolgten war für die Behandlung durch die Polizei oft
von Bedeutung, worauf auch R
OGGER
Russia, S. 56f., hinweist. Richard Pipes’ These von der an „To
talitarismus“ gemahnenden Polizeimacht im ausgehenden Zarenreich (P
IPES
Old Regime, S. 311f.) ist
vor diesem Hintergrund eindeutig zu verwerfen. Sie ist Teil einer Überhöhung der Omnipotenz der
ochrana; L
AUCHLAN
Separate Realm, bes. S. 70–83, schreibt zum „Mythos
ochrana“. R
OGGER
Russia,
S. 55, betont, sie sei kein Staat im Staat gewesen und ihre Opfer seien nicht einfach verschwunden.
135 Ein
Beispiel dafür ist die Zensur, vgl. R
OGGER
Russia, S. 57. Beispielsweise konnte Lenins in der Ver
bannung geschriebenes Werk „Die Entwicklung des Kapitalismus in Russland“ ohne weiteres publi
ziert werden.
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3. Sibirien – „Die andere Welt“: Topographie der Katorga
3. Sibirien – „Die andere Welt“: Topographie der Katorga
Gustaw Herling-Grudzińskis Erinnerungen an seine anderthalbjährige Lagerhaft in den
1940er Jahren im nordrussischen Gulag-Ableger von Vorkuta sind im polnischen Origi
nal mit
„Inny świat“ überschrieben – „andere Welt“.
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Die „andere Welt“ – das ist das,
was Aleksandr Solženicyn den „Archipel“ genannt hat; die Welt des sowjetischen La
gers, die sich über das ganze Land verteilte, selbst vor den Metropolen nicht endete und
doch einer anderen Wirklichkeit entsprach. Lager gab es überall im Sowjetimperium,
und mit ihnen die „andere Welt“. Auch Sibirien erscheint, aus Moskauer oder Pe
tersburger Perspektive, als eine „andere Welt“ – als das „andere Russland“.
137
Aber es ist
zugleich ein geographisch fassbarer Raum, mit welchem darüber hinaus auch der russi
sche Ferne Osten
(Dal’nij vostok) samt der Insel Sachalin zu denken ist.
138
Zu Zeiten des
sowjetischen Gulag waren diese „anderen Welten“ – jene des
Gulag und jene hinter dem
Ural – nur partiell deckungsgleich; in der politischen Katorga des späten Russischen
Reichs aber nahezu ganz. Die Vollzugsstätten der Zwangsarbeit für politische Häftlinge
befanden sich – von einzelnen, namentlich in der allerletzten Phase des Zarenreichs ein
gerichteten Ausnahmen abgesehen – in Sibirien und auf Sachalin.
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3.1. Die Katorga im russischen Verbannungs- und Strafsystem
3.1.1. Ssylka und Katorga
Die Topographie der Katorga ist zunächst eine geographische, nicht weniger aber
eine historische und politisch-rechtliche. Das russische Verbannungssystem bildete ih
ren Rahmen. Seit dem ausgehenden 16.
Jahrhundert wurden Personen, die sich nach An
sicht der Dorfgemeinschaft vergangen hatten, deportiert und ab 1649 – nicht nur, aber in
zunehmendem Maß – nach Sibirien verbracht.
140
Immer wieder wird in diesem Zu
sammenhang die Glocke von Uglič als das ins Extreme gewendete Beispiel einer der
frühesten Verbannungen angeführt; zusammen mit renitenten Dorfbewohnern hatte Zar
Boris Godunov das Klangwerk 1591 nach Westsibirien deportieren lassen, nicht ohne
136 Das Werk ist auf Deutsch unter dem Titel „Welt ohne Erbarmen“ im Jahr 2000 neu aufgelegt worden.
Über die Sinnfälligkeit dieser Titelgebung lässt sich streiten; sie ist auf eine andere Dimension aus
gerichtet als die vieldeutigere Originalüberschrift, an die sich im übrigen auch die englische Fassung
anlehnt („A World Apart“).
137 Vgl. G
OEHRKE
Das „andere Russland“, wo die Stellung Sibiriens in der russischen Geschichte unter
sucht wird, sowie B
ASSIN
Imperialer Raum, wo es um Projektionen auf und Vorstellungen von Sibirien
im (europäischen) Russland des 19. Jahrhunderts geht. Zur kulturellen Grenzziehung vgl. F
IGES
Na
tasha’s Dance, S. 378f.
138 Zur geographischen Definition Sibiriens vgl. W
EIN
Sibirien, S. 15–17. Die Abgrenzung des Fernen
Ostens als geographisch und territorial von Sibirien geschiedenes Gebiet erfolgte demnach erst im
Laufe des 20. Jahrhunderts. Die Grenze verläuft geographisch entlang der Wasserscheide zwischen
den Einzugsgebieten des Nördlichen Eismeers und des Pazifiks. Die politisch-territoriale Grenzzie
hung folgt dem aber nur partiell.
139 Vgl. D
ALY
Punishment, S. 351.
140 Vgl. K
ONSTANTINOV
Katorga, Sp. 575f. Die Ssylka wurde im Gesetzbuch von 1649 als Strafe festge
schrieben. D
VORJANOV
V sibirskoj, S. 23, erwähnt gar Strafaktionen Ivan Groznyjs Mitte des 16. Jahr
hunderts als erste Formen der Ssylka. Vgl. auch die Übersicht bei R
ABE
Widerspruch, S. 16–22, und
M
ARGOLIS
Sistema, S. 126–134.
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