Osteuropa-institut



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OSTEUROPA-INSTITUT MÜNCHEN  Mitteilung Nr. 56
übrigen Kleider wurden ausgegeben. Aleksandra Izmajlovič erhielt, schon in Minsk, 
einen Rock aus Tuch, einen Kittel, einen Mantel aus Schafspelz und ein weißes Kopf­
tuch. Das Gewicht der Bekleidung habe die Bewegungsfreiheit eingeschränkt, merkt sie 
an.
215
  Kon, rund zwanzig Jahre früher unterwegs, zählte, neben eigener Unterwäsche, 
eine Pelzjacke, ein Paar Stiefel, ein Kissen und Bücher zu seinen Habseligkeiten für die 
Reise.
216
  Der Kittel  (chalat)  und der Sack  (mešok), in dem die wenigen Gegenstände 
transportiert wurden, gehörten ebenso wie die Ketten und der halbrasierte Schädel zum 
„Markenzeichen“ eines  katoržanin.  Mit den Kleidungsstücken wurde allerdings auch 
Missbrauch getrieben. Jakubovič beklagt sich darüber, dass die Kleidung für die klima­
tischen Verhältnisse inadäquat und ihre Qualität mangelhaft gewesen sei.
217
 
3.2.3. Die Bewältigung des Raumes und die Begegnung mit dem Imperium
Auf die Ambivalenz des Aufbruchs, der bei manchen Häftlingen angesichts des wenig 
inspirierenden   Gefängnisalltags   letztlich   positiv   wahrgenommen   wurde   –   Kon,   Ka­
chovskaja oder auch Kovalik
218
 und andere belegen dies für verschiedene Umstände und 
Zeiträume –, folgte die Ambivalenz der Reise nach Osten. Eine Ambivalenz, die sich in 
positiven und negativen Eindrücken und Erlebnissen niederschlug, noch nicht aber in 
Reflexionen über das Bevorstehende vor oder beim Antritt des Weges. Körperliche Stra­
pazen   und   das   Gefühl,   der   Freiheit   wieder   ein   Stückchen   näher   zu   sein;   eine   ge­
wöhnungsbedürftige gesellschaftliche Umgebung und die Konfrontation mit dem viel­
fältig „Andern“ unterwegs; die Ungewissheit über das nur schemenhaft bekannte Ziel – 
die Durchquerung des Russischen Reiches, von Europa nach Asien, weckte zwiespältige 
Empfindungen. Jakubovič bilanzierte am Ende der Reise düster: 
„Am Ende meiner Erinnerungen an die Reise sage ich es geradeheraus: Hätte ich einen 
Todfeind und wollte  ich ihn unbedingt zur erdenklich  schlimmsten Strafe verurteilen, 
würde ich einen drei- bis vierjährigen Marsch durch die Etappen wählen. Ihn zu einer 
215 I
ZMAJLOVIČ
 Iz prošlogo [Teil 1], S. 188.
216 K
ON
 Pod znamenem, S. 208.
217 M
ELSCHIN
 Im Lande 1, S. 17f. Ähnliches berichtet K
ENNAN
 Siberia I, S. 404. Die blühende Korruption 
im Verbannungssystem führte zu Unterschlagung von Gütern oder zur Lieferung wertloser, weil in­
nerhalb kürzester Zeit abgenutzter Gegenstände. Auch K
ACZYNSKA
 Gefängnis, S. 75f., geht auf diesen 
Umstand ein. Ihre Bemerkung, gegen Ende des 19. Jahrhunderts seien die Deportierten in eigener 
Kleidung transportiert worden, lässt sich an keiner der zu Rate gezogenen Quellen verifizieren. Einzig 
M
ELSCHIN
 Im Lande 1, S. 17, erklärt, die sibirischen Behörden seien in dieser Frage weniger restriktiv 
gewesen und hätten auch eigene Kleidungsstücke toleriert. Allerdings ist nicht klar, ob Jakubovič 
selbst von dieser Regelung profitierte, denn er berichtet zugleich davon, dass er seine eigenen Kleider 
im Deportationsgefängnis habe zurücklassen müssen. K
ENNAN
 Siberia I, S. 370, nennt als Sommerklei­
dung: Hemd und Hose aus grauem Leinen, quadratische Fußlappen anstelle von Socken, niedere 
Schuhe, lederne Schoner für den Bereich der Fußfesseln, eine Mütze und einen langen grauen Mantel. 
Frauen trugen einen Rock statt der Hose.
218 Kovalik „überwinterte“ 1880/81 im Gefängnis von Mcensk (Gouvernement Orel) unter, wie er berich­
tet, vergleichsweise angenehmen und freien Umständen, vgl.  K
OVALIK
  Revoljucionery-narodniki, S. 
144–146, aber er war doch froh, als es im Mai 1881 auf die Reise in die Katorga von Kara ging. Er 
fasst die mehrfach beschriebene Ambivalenz knapp zusammen, ebd., S. 147: „Ungeachtet der Be­
quemlichkeiten, von denen wir in Mcensk Gebrauch machten, verließen wir ohne jedes Bedauern das 
Gefängnis, und allein die Notwendigkeit, von unseren täglichen Besuchern Abschied zu nehmen, be­
trübte uns.“
50


3.2. Der Weg nach Osten – Bewältigung des Raumes und Konstituierung der Katorga
längeren Frist zu verurteilen, brächte ich nicht übers Herz. Ja, für einen gebildeten Men­
schen kann man sich keine größere Strafe auf Erden ausdenken.“
219
Gnädiger, versöhnlicher fiel Kons Urteil auf dem letzten Streckenabschnitt des Weges 
in die Katorga von Kara aus:
„Noch etwa zwei Wochen, und wir würden am Ort sein. Wir waren zufrieden. Auf dem 
ganzen Weg richteten sie uns nur einmal mit Gewehrkolben zu, niemand von uns er­
krankte auf dem Weg, niemand verlor den Mut, im Gegenteil, wir näherten uns dieser 
Anlegestelle des Lebens mit dem Glauben in unsere Kräfte. Wie hätten wir da nicht zu­
frieden sein sollen?“
220
Der Charakter des Weges nach Transbaikalien war zu Kons und Jakubovičs Zeiten ver­
gleichbar und hielt sich bis zur Wende zum 20. Jahrhundert. Wer von St. Petersburg 
oder Moskau aufbrach, fuhr erst mit der Eisenbahn bis Nižnij Novgorod; von dort ging 
die Reise im Schiff auf der Volga und der Kama weiter bis nach Perm’. Die Strecke von 
Perm’ nach Tjumen’ wurde erneut mit der Eisenbahn bewältigt; Tomsk erreichten die 
Häftlinge wiederum auf dem Schiff, nach einer Fahrt auf der Tura und dem Tobol bis 
Tobol’sk und anschließend auf Irtyš, Ob’ und Tom.
221
 Tjumen’ und Tobol’sk ließ lange 
Zeit kein Häftlingstransport aus, weil beide westsibirischen Städte für die Verwaltung 
des   Verbannungssystems   bedeutsam   waren.   In   Tjumen’   befand   sich   der  prikaz   o 
ssyl’nych, das zentrale Amt des Verbannungswesens,
222
 wo die Verbannten in ein Regis­
ter aufgenommen wurden und den Zielort der Verbannung erfuhren, was zuweilen auch 
bei Katorga-Häftlingen für Aufregung sorgte (etwa als nach der – den katoržane noch 
nicht bekannten – Schließung von Kara 1890 plötzlich Akatuj als Vollzugsgefängnis ge­
nannt wurde
223
). An Tomsk schloss jenes Wegstück an, auf das Jakubovičs Verwün­
schung anspielt und das zur Legendenbildung rund um Katorga und Ssylka viel beige­
tragen hat: der Fußmarsch von „Etappe“ zu „Etappe“ auf der sibirischen Poststraße (si­
birskij trakt) von Tomsk über Krasnojarsk, Irkutsk, Čita und Sretensk in die Minen von 
Kara oder des Nerčinsker Kreises. Die Strecke war gesäumt von „Etappengefängnissen“ 
(ėtapy), in denen die Häftlinge nachts untergebracht wurden, nachdem sie ein Tagespen­
sum von 25 bis 30 verst
224
 zu Fuß – oder, wenn es sich um Kinder, Kranke, Schwache 
und Privilegierte („Politische“) handelte, auf einem Wagen – zurückgelegt hatten. Nach 
der Hälfte der täglichen Strecke gab es eine Pause von 15 bis 30 Minuten; jeden dritten 
Tag ruhte die Gruppe.
225
219 M
ELSCHIN
 Im Lande I, S. 57.
220 K
ON
 Pod znamenem, S. 257.
221 Vgl. K
ON
 Pod znamenem, S. 213–219, M
ELSCHIN
 Im Lande I, S. 14f., F
REJFEL

D
 Iz prošlogo, S. 69–71, 
M
ELKOV
 Put’, 83f. Vgl. Karte im Anhang (S. 159).
222 Vgl. K
ACZYNSKA
 Gefängnis, S. 67, und M
AKSIMOV
 Sibir’ tom 1, S. 23. In Maksimovs Fließtext heißt es, 
der prikaz befinde sich in Tobol’sk. Aus einer Anmerkung geht jedoch hervor, dass sich der prikaz bis 
1823 in Tjumen’ und danach in Tobol’sk befunden habe und später nach Tjumen’ zurückgekehrt sei. 
Daran zeigt sich, dass Maksimov, der in den 1860er Jahren die Katorga besuchte, nicht ganz auf der 
Höhe der Zeit war. Alle Angaben in den verwendeten Quellen sprechen für Tjumen’ als Sitz des pri­
kaz, vgl. auch K
ON
 Pod znamenem, S. 215. Tobol’sk lag auch geographisch ungünstig.
223 F
REJFEL

D
 Iz prošlogo, S. 70. Von Tobol’sk ist keine Rede.
224 1 Verst entspricht 1,06678 km (vgl. H
OFFMANN
 Einführung, S. 204).
225 Vgl. K
ON
 Pod znamenem, S. 227 und 235, M
ELKOV
 Put’, S. 88, und K
ENNAN
 Siberia I, S. 369f. Kennan 
erwähnt auch „Halbetappen“ (poluėtapy), weniger große und ausgebaute Etappengefängnisse auf hal­
ber Wegstrecke zwischen zwei normalen Etappen. In den Häftlingsberichten taucht dieser Begriff nur 
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