OSTEUROPA-INSTITUT MÜNCHEN
Mitteilung Nr. 56
wachsen.
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Innenpolitische Konsequenzen waren unabdingbar. Die von Peter I. erstmals
in aller Deutlichkeit aufgeworfene Frage von Russlands Verhältnis zum westlichen Eu
ropa stellte sich auch jetzt. Peter hatte sie mit brachialer Gewalt und dem Symbol St. Pe
tersburg zugunsten der Öffnung nach Westen vermeintlich beantwortet. Der „aufge
klärte Absolutismus“ Katharinas II. war beeinflusst durch westliche politische Theorien,
auch wenn sich davon letztlich sehr wenig in der russischen Wirklichkeit niederschlug.
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Auch die Reformen Alexanders I. hatten das Imperium nicht wirklich westlicher ge
macht; auf sie folgte vielmehr eine reaktionäre Periode.
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In ständiger Ausein
andersetzung mit Restriktion und Reaktion unter Nikolaus I. hatte eine oppositionelle
intelligencija nach neuen Antworten gesucht. „Russland und Europa“ wurde zum be
stimmenden Topos einer intellektuellen Diskussion ab dem ersten Drittel des 19. Jahr
hunderts. Die einen plädierten für eine konsequent nach Westen ausgerichtete An
passung, die andern für einen russischen Sonderweg; es bildeten sich „Westler“ und
„Slavophile“ heraus. Zum zentralen Kritikpunkt entwickelte sich die Leibeigenschaft
der Bauern, die mit dem Aufbruch in die Moderne nicht vereinbar war und beträchtliche
soziale Sprengkraft besaß.
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Westeuropa war auch diesmal der Bezugspunkt für die Monarchie. Nachdem schon
unter seinem Vater Nikolaus I. das Strafgesetzbuch 1845 erneuert und die bis dahin
grundlegende Körperstrafe stark eingeschränkt worden war,
89
rang sich Alexander II. im
Laufe der 1860er Jahre zu bedeutsamen Reformschritten durch; diese betrafen die Auf
hebung der Leibeigenschaft, das Justiz-, Polizei- und Gefängniswesen, aber auch die im
vorliegenden Kontext weniger relevante lokale Selbstverwaltung (
zemstvo) sowie Bil
dungs- und Verwaltungsfragen.
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2.2.1. „Bauernbefreiung“ und Justizreform
Der vordergründig spektakulärste Bruch mit der Vergangenheit erfolgte am 19. Februar
1861 mit der „Bauernbefreiung“, durch welche die bisher leibeigenen Bauern ihre per
sönliche Freiheit erlangten. Das Ende der Leibeigenschaft in Russland blieb aber unvoll
ständig, das Wort von der „Befreiung“ letztlich eine Hülse. Da der gutsbesitzende Adel
vor dem Ruin bewahrt und die Mobilität unterbunden werden sollte und die Steuer
85 Vgl. S
TÖKL
Geschichte, S. 536f.
86 Diese Ansicht vertritt S
TÖKL
Geschichte, S. 404; vgl. generell, S. 399–407, zu Katharina II.
87 Überblick bei S
TÖKL
Geschichte, S. 454–456, detailliert zu den Reformschritten im Rechts-, Bildungs-
und Finanzwesen S
TÖKL
Geschichte, S. 456–463, und zur Reaktion S. 463–467.
88 Zur intellektuellen Gegnerschaft vgl. H
AUMANN
Geschichte, S. 332–341. „Das Leibeigenschaftssystem,
von dem sie lebten, kritisierten sie scharf“, heißt es ebd., S. 332, über die Aushängeschilder der unter
anderem an westlichen Philosophen (Schelling, Fichte, Hegel) geschulten Intellektuellen – Michail
Bakunin, Konstantin Aksakov,
Jurij Samarin, Aleksandr Gercen (Herzen), Nikolaj Ogarev. Sie gingen
später ganz unterschiedliche Wege, Bakunin als Anarchist, Aksakov und Samarin als „Slavophile“.
Gercen und Ogarev publizierten im Londoner Exil von 1857 bis 1868 die Zeitschrift „Kolokol“ („Die
Glocke“) als wichtiges oppositionelles Sprachrohr, auch für das spätere narodničestvo, die Bewegung
der Volkstümler (
narodniki) (vgl. weiter unten)
.
89 Vgl. D
ALY
Punishment, S. 341, sowie umfassend zur Bedeutung und zur Abschaffung der Kör
perstrafen in Russland S
CHRADER
Branding
the Exile, S. 19–40. Vgl. auch Kap. 3.1 (S. 35).
90 Zur
zemstvo-Einführung vgl. S
TÖKL
Geschichte, 543–648, H
AUMANN
Geschichte, S. 358–361, und Hil
dermeier, Revolution, S. 47f.;
zu den weiteren Reformen S
TÖKL
Geschichte, S. 549–552.
26
2.2. Die „Großen Reformen“ und die ersten Phasen des Terrors
abgaben sichergestellt werden mussten, bestanden weiterhin Verpflichtungen gegenüber
dem Adel einerseits und der Dorfgemeinde
(mir, obščina) anderseits.
91
Im Rahmen die
ser Ausführungen ist es nicht möglich, die Aufhebung der Leibeigenschaft angemessen
zu würdigen. Sie war jedoch bei aller Unzulänglichkeit für die weitere Entwicklung des
Zarenreiches grundlegend. Denn wenngleich die Bauern an ihrer Scholle haften blieben
und damit ihre Abwanderung in die Städte mit allen ihren Folgen verhindert werden
sollte, war die Entstehung der „sozialen Frage“ unabwendbar. Sie ergab sich zweifach –
auf dem Land, wo viele Bauern sich nur eine geringe Nutzfläche leisten konnten und
nun erst recht
in der Armut versanken, und in der Stadt, wohin es die Verlierer von 1861
trotz allem zog und wo diese eine hybride Bevölkerungsschicht bildeten. Die bäuerli
chen Industriearbeiter waren Bauern und Städter zugleich.
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Auf den ersten Blick von geringerer Tragweite war die Justizreform (
sudebnaja re
forma)
von 1864. Für das politische Verständnis der Autokratie und damit für das aus
gehende Zarenreich insgesamt mag ihre grundsätzliche Bedeutung jedoch kaum zu über
schätzen sein.
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Anstelle einer mit dem administrativen Apparat verflochtenen Justiz, de
ren Verfahren intransparent und manipulierbar sowie von der ständischen Ordnung be
einflusst gewesen waren,
94
hielt die Gewaltenteilung in Russland Einzug; die Verwal
tung hatte nichts mehr mitzubestimmen. Auf den oberen und unteren Ebenen des zwei
gliedrigen Systems wurden die Verfahren vereinheitlicht und, mit Ausnahme der Bau
erngerichte (
volost’-Gerichte), standesunabhängig; im Senat, der obersten Instanz, wur
den Kassationshöfe eingerichtet. Auf der unteren Ebene waren die Justizbezirksgerichte
(
okružnoj sud) zuständig. Die Berufung erfolgte an den Gerichtshöfen (
sudebnaja pala
ta).
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Neben den regulären Gerichten wurden Friedensgerichte geschaffen, deren Richter
von der lokalen Selbstverwaltung auf Verwaltungsbezirkebene (
uezd) gewählt wurden
und welche die kleineren Strafsachen zu beurteilen hatten, die nicht ans Justizbezirks
gericht gingen. Besondere Aufmerksamkeit wurde den neugeschaffenen Geschwo
renengerichten zuteil; diesen oblag die Rechtsprechung bei schweren Verbrechen, nicht
aber bei politischen Delikten. Hierfür zuständig waren die Appellationshöfe (
sudebnaja
palata).
Die Justizreform orientierte sich in ganz besonderem Masse an westeuropäischen
Vorbildern. Der spezifisch russische Kontext und mithin die Fähigkeit von Staat und
Gesellschaft, die Reform zu tragen, fanden aber zu wenig Berücksichtigung. Das führte,
worauf Jörg Baberowski hingewiesen hat, umgekehrt auch bei der Beurteilung von de
91 Ausführlicher, aber konzis zur Aufhebung der Leibeigenschaft H
AUMANN
Geschichte, S. 352–358, so
wie S
TÖKL
Geschichte, S. 536–543. Haumann hält, aus plausiblen Gründen, die hier nur angedeutet
werden, den Begriff „Bauernbefreiung“ im Grunde für irreführend; daher wird er auch in dieser Ar
beit stets in Anführungszeichen gesetzt.
92 Vgl. dazu den Abschnitt „Mir und Stadt“ bei G
OEHRKE
Alltag 2, S. 281–284, sowie H
AUMANN
Ge
schichte, S. 371–379.
93 Rabe spricht von der entscheidenden Zäsur in der Rechtsgeschichte des ausgehenden Zarenreiches,
R
ABE
Justiz, S. 1531. Als Überblick zur Justiz im ausgehenden Zarenreich grundlegend ist das ent
sprechende Kapitel im Handbuch der Geschichte Russlands, R
ABE
Justiz, S. 1528–1576, sowie spezie
ll zur politischen Justiz das
umfassende Werk von B
ABEROWSKI
Autokratie; vgl. auch Fußnote 96.
94 Für die „Kardinalfehler“ der russischen Justiz vor 1864 die Zusammenfassung bei R
ABE
Justiz,
S. 1528–1530.
95 R
ABE
Justiz, S. 1531–1533.
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