Osteuropa-institut



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1.5. Historiographiegeschichte und Forschungsstand
gegenüber den westeuropäischen Imperien ist nicht mehr der zentrale Untersuchungs­
gegenstand. Vielmehr interessiert die Rezeption der europäischen geistesgeschichtlichen 
Entwicklung in Russland, in deren Zusammenhang die Reformen stehen. So lassen sich 
Erkenntnisse  über das Umfeld, in  dem  sich die  Reformen zu  behaupten haben, ge­
winnen, um die Erneuerungsbestrebungen am tatsächlich Machbaren zu messen und 
nicht an westeuropäischen Standards.
64
1.6. Hinweise
Wegen der erst nach der Oktoberrevolution 1917 vollzogenen Kalenderreform vom ju­
lianischen zum gregorianischen Kalender werden alle Daten im alten Stil (also nach ju­
lianischem Kalender) angegeben. Im 19. Jahrhundert betrug der Rückstand auf den gre­
gorianischen Kalender 12, im 20. Jahrhundert 13 Tage.
65
  Die in Russland gebräuchli­
chen Maße und Gewichte werden bei ihrer Erwähnung umgerechnet.
66
 Alle russischen 
Eigennamen (mit Ausnahme der Herrscher
67
) und Begriffe (mit Ausnahme gängiger Be­
zeichnungen wie Zar, Bolschewiki)  werden nach den  wissenschaftlichen  Richtlinien 
transliteriert.
68
 Erscheinen sie im Fließtext oder in den Fußnoten, so werden sie kursiv 
gesetzt, ebenso wie andere fremdsprachige Begriffszitate. Ausgenommen davon sind die 
beiden zentralen Termini des Verbannungssystems, „Katorga“ und „Ssylka“; sie werden 
wie ein Fremdwort behandelt. Außer einigen wenigen, in der Arbeit eingeführten Be­
griffen werden die russischen Bezeichnungen sowie alle Quellen- und Literaturzitate, 
sofern sie nicht aus bereits bestehenden Übersetzungen stammen, worüber die Biblio­
graphie Auskunft gibt, aus dem russischen Original ins Deutsche übertragen. Die Über­
setzungen dieser Exzerpte stammen vom Verfasser dieser Arbeit. Autoren und andere 
Personen werden, wo möglich, mit Vor- und Nachnamen erwähnt. Allerdings waren 
nicht alle Vor- und Vatersnamen eruierbar. Daraus ergibt sich eine Inkonsistenz, die 
aber bewusst nicht zuungunsten aller Vornamen aufgelöst worden ist.
Die   vorliegende   Untersuchung   ist   2004/05   als   Lizentiatsarbeit   an   der   Philoso­
phischen Fakultät der Universität Zürich, Historisches Seminar, Abteilung für Osteuro­
nisreformen A
DAMS
 Punishment.
64 Die Kontextgebundenheit der Modernisierungserfolge in der Rechtsprechung ist Baberowskis Prämis­
se, vgl.  B
ABEROWSKI
  Autokratie, S. 6. Er beklagt, dass Untersuchungen zu den russischen Justizref­
ormen zuvor stets das westliche Europa als Maßstab genommen hätten, was bei der Beurteilung jeder 
Reform des Zarenreiches bzw. von deren Umsetzung zu einem negativen Fazit geführt habe (S. 3f.). 
Baberowskis Ansatz steht im Zusammenhang mit dem bei T
EICHMANN
 [Lohr], angeführten Bestreben, 
die Ideen des westlichen Europa als Anstoß, aber nicht als Maßstab für Entwicklungen im ausgeh­
enden Zarenreich zu verstehen. Auch K
OTSONIS
 Introduction, S. 2f., und H
OFFMANN
 European Moderni­
ty, S. 246f., betonen mit Nachdruck Russlands Teilhabe am Prozess der europäischen Moderne (vgl. 
auch Fussnote 16) bereits im ausgehenden Zarenreich. Überdies C
RISP
/E
DMONDSON
 Preface, S. vi, zur 
Abkehr von einem monolithischen Verständnis des „Westens“ in Abgrenzung zu Russland.
65 T
ORKE
 Kalender, S. 193.
66 Alle Umrechnungen stützen sich auf die Übersicht bei H
OFFMANN
 Einführung, S. 204 (Längenmaße) 
und 211 (Gewichte).
67 T
ORKE
  Einführung, S. 28, hält fest, dass alle nachpetrinischen Herrscher in deutscher Form wieder­
gegeben werden sollen. Daran orientiert sich auch diese Arbeit.
68 Abweichungen bei Zitaten (auch Buchtitel und Verfasserangaben) aus der Forschungsliteratur und aus 
den englischsprachigen Quellen sind unvermeidbar.
21


OSTEUROPA-INSTITUT MÜNCHEN  Mitteilung Nr. 56
päische Geschichte, bei Prof. em. Dr. Carsten Goehrke entstanden. Für den Druck wur­
den geringfügige Anpassungen vorgenommen.
22


2. Macht und Ohnmacht – Das Russische Reich 1861–1917
2. Macht und Ohnmacht – Das Russische Reich 1861–1917
2.1. Der 9. Januar 1905 und das Spannungsfeld des ausgehenden Zaren­
reichs
Am 9. Januar 1905 scharten sich in St. Petersburg über 100.000 Arbeiter hinter den frü­
heren Gefängnispriester Gapon, um Zar Nikolaus II. in einem friedlichen Bittgang eine 
Petition zu überreichen. Die Regierung hatte vor der Demonstration gewarnt und sie zu 
verhindern gesucht. Noch bevor die verschiedenen Züge der prozessionsartigen Mani­
festation den Senatsplatz nahe dem Winterpalais an der Neva erreichten, griffen die auf­
gebotenen Soldaten ein; über 100 Teilnehmer fanden den Tod, mehr als 800 wurden 
verletzt.
69
 
Der „Blutsonntag“ von St. Petersburg, 
als welcher der Januartag in die Geschichtsbü­
cher einging, war ein Fanal und ein Symbol zugleich. Als Fanal mag er gelten, weil er, 
ganz unmittelbar, die Lunte war, die das Pulverfass zur Explosion brachte. Seit Beginn 
des Jahrhunderts, verstärkt aber im Laufe des Jahres 1904 hatte sich der Unmut über die 
wirtschaftliche und soziale Entwicklung im Russischen Reich so sehr gesteigert, dass 
sich Streiks und Unruhen gehäuft hatten. Der Kopf des reaktionären Vorgehens der Re­
gierung gegen die zunehmenden Spannungen, Innenminister Vjačeslav K. Pleve, fiel im 
Sommer 1904 einem Bombenanschlag zum Opfer, den der Sozialrevolutionär Egor Sa­
zonov ausgeführt hatte.
70
 Die Nachrichten von der russisch-japanischen Kriegsfront im 
Fernen Osten waren düster und kränkten das russische Selbstbild, das in der antija­
panischen Propaganda heroisiert worden war. Der Gewaltausbruch vor dem Sitz des Za­
ren gegen demonstrierende Bürger brachte die Eskalation. Der Protest breitete sich rasch 
auf weitere Städte des Reiches aus und erfasste alle Schichten; auch Intellektuelle und 
Unternehmer schlossen sich an.
71
 
Der „Blutsonntag“ war darüber hinaus ein Symbol. Er zerriss das Band zwischen 
dem Volk und einem Herrscher, der scheinbar gleichgültig ein Blutbad unter seiner Be­
völkerung hinnahm.
72
  Die Repression, die zur gegenseitigen Aufrechnung der Gewalt 
führte, suggerierte zarische Macht, aber sie war im Grunde Ausdruck der Ohnmacht ei­
ner ins Taumeln geratenen Autokratie. In dieser Ohnmacht spiegelte sich ein Span­
nungsfeld, das für die Endphase des Zarenreiches symptomatisch war. Seine Eckpunkte 
waren, auf der einen Seite, die Agonie der Selbstherrschaft, die sich selbst und andere 
69 S
TÖKL
 Geschichte, S. 595f., T
ORKE
 Einführung, S. 180f., und R
OGGER
 Russia, S. 208f. Vgl. auch die 
sehr   anschauliche   Schilderung   des   Ablaufs   bei  F
IGES
  Tragödie,   S.   187–193.   Die   Zahlenangaben 
schwanken erheblich.
70 S
TÖKL
 Geschichte, S. 592–595, schildert die von Streiks unter den Arbeitern und Unruhen auf dem 
Land geprägte Stimmung 1904/05, worin sich der Protest gegen die wirtschaftlichen und sozialen 
Verhältnisse mit der immer radikaleren revolutionären politischen Stoßrichtung vermengte. Egor Sa­
zonov wurde zu Katorga-Haft verurteilt und spielte 1910 eine prominente Rolle im Gefängnisprotest 
von Gornyj Zerentuj. Vgl. Kap. 4.6.
71 S
TÖKL
 Geschichte, S. 596–600, und H
ILDERMEIER
 Revolution, S. 52f. 
72 Vgl. dazu M
ERRIDALE
 Steinerne Nächte, S. 90–94. Merridale hebt die „Politik der Vertuschung“ nach 
dem 9. Januar hervor: Die Regierung brachte die Opfer des Blutbades in einer Nacht-und-Nebel-Akti­
on auf einen abgelegenen Friedhof, wo sie in einem Massengrab und ohne die traditionellen Riten be­
stattet wurden. 
23


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