2.2. Die „Großen Reformen“ und die ersten Phasen des Terrors
werden.
103
Die faktische Gewaltenteilung im autokratischen Staat, die zu einer ständigen
Konfrontationslinie wurde,
104
bedeutete dennoch einen Meilenstein für Russland.
2.2.2. Terror und Neuorganisation der staatlichen Sicherheit
Die Reformen der 1860er Jahre verschärften den Anachronismus der Staatsform. Eine
sich weiterhin absolutistisch gebende Spitze existierte nun neben einer weitgehend un
abhängigen Justiz und selbstverwalteten Land- und Stadtgebieten; der kritische Geist
der
intelligencija bzw. der
raznočincy
105
, überhaupt die Partizipation der Gesellschaft im
Reich, waren nicht erwünscht.
106
Die wirtschaftliche und technische Entwicklung
107
machte große Fortschritte und setzte ihrerseits Kräfte frei, die ins Leere liefen – mehr
Menschen erwarben eine gute Ausbildung und suchten dementsprechend nach Ent
faltungsmöglichkeit. Gleichzeitig waren soziale Verschiebungen, vor allem im Zuge der
Industrialisierung, zu beobachten. Die Arbeiterschaft wuchs gegen Ende des Jahr
hunderts immer stärker an.
108
Der Unmut und der Wille zum Aufbruch ließen sich jedoch nicht mehr länger unter
drücken. Im Zuge der Agrarreformen kam es 1863/64 zu Studentenunruhen und zur
kurzzeitigen Bildung der oppositionell-revolutionären Bewegung
„Zemlja i volja“
(„Land und Freiheit“).
109
1866 wurde ein Attentat auf den Zaren verübt, das aber miss
lang.
110
In der Folge erhielt zunächst der friedliche Weg vor dem terroristischen den Vor
102 In den baltischen Provinzen, in Sibirien und in Mittelasien wurde die Reform erst sehr viel später und
unvollständig (Verzicht auf Geschworenengerichte) umgesetzt, vgl. B
ABEROWSKI
Konstitution, S. 388–
390.
103 Dies vor allem während der Terrorkampagnen Ende der 1870er und Anfang der 1880er Jahre sowie
nach 1905. Vgl. R
ABE
Justiz, S. 1533, B
ABEROWSKI
Justizwesen, S. 164f., und D
ALY
Punishment, S.
347.
104 Vgl. B
ABEROWSKI
Autokratie, S. 9, und B
ABEROWSKI
Justizwesen, S. 165f.
105 Die Bezeichnung
raznočincy („Verschiedenrangige“) fasst die sich im Zuge der gesellschaftlich-poli
tischen Emanzipation immer stärker artikulierenden Gruppe von Personen zusammen, die nicht im
traditionellen, auf Peter I. zurückgehenden Ständewesen verortet werden konnten; darin fanden sich
Adlige, kleine Beamte, Publizisten, Professoren, Schriftsteller, Rechtsanwälte. Vgl. H
AUMANN
Ge
schichte, S. 335.
106 Einer der „Urnihilisten“, N. G. Černyševskij, der sich am radikalen Materialismus vor allem deutscher
Gelehrter orientierte und sich als Publizist und Schriftsteller hervortat (u.a. mit dem im Gefängnis ge
schriebenen, sozialutopischen Roman „Čto delat’?“ – „Was tun?“), wurde 1864 in die Katorga ge
schickt (bis 1872 im Kreis Nerčinsk) und anschließend in die Ansiedlung nach Viljujsk (Jakutien). In
der traditionellen (sowjetischen) Katorga-Forschung gilt er als einer der Prototypen des
politka
toržanin in Ostsibirien. Vgl. S
TÖKL
Geschichte, S. 567–570, D
VORJANOV
V sibirskoj, S. 70–82, und
bes.
für die Katorga-Zeit Skripilev, N. G. Černyševskij, S. 61–82.
107 Abgesehen von der Industrialisierung ist auch an die Transsibirische Eisenbahn zu denken, vgl.
M
ARKS
Road.
108 Vgl. R
OGGER
Russia, S. 132f. sowie den Überblick bei Hildermeier, Revolution, S. 24–33, zur Indus
trialisierung und wirtschaftlichen Modernisierung, zu Städtewachstum und Arbeiterschaft bes. S. 27;
vgl. auch B
ABEROWSKI
Konstitution, S. 399, zur ökonomisch und sozial bedingten Instabilität, die in
stitutionell nicht aufgefangen werden konnte.
109 Zur revolutionären Bewegung vgl. die Übersicht bei H
AUMANN
Geschichte, S. 379–388, und bei Hil
dermeier, Revolution, S. 33–46. Vgl. auch R
OGGER
Russia, S. 134–140.
110 Vgl. D
ALY
Autocracy, S. 4. Es war dies der erste Anstoß für eine polizeiliche Neuordnung, vgl. weiter
unten.
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