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OSTEUROPA-INSTITUT MÜNCHEN  Mitteilung Nr. 56
ren Umsetzung, vor allem in der rechtshistorischen Forschung, zu einer Verzerrung.
96
 
Die Grundlagen für das ambitionierte Vorhaben waren nicht mit jenen Westeuropas ver­
gleichbar, weshalb die Umsetzung vor dem Hintergrund der tatsächlichen Machbarkeit – 
also kontextgebunden – gewürdigt werden muss (Rechtswirklichkeit statt Rechtsideal). 
Als besonders problematisch erwiesen sich alsbald die Geschworenengerichte, die zu­
erst   euphorisch  begrüßt   wurden,  dann  aber  zu   einer  Ernüchterung  führten,   weil   die 
Rechtsprechung durch die völlig überforderten Geschworenen desavouiert wurde.
97
 Ba­
berowskis These, dass die „Gegenreformen“ im Zuge der härteren Politik Zar Alex­
anders III. in den 1880er Jahren auch als Korrektiv fehlgeleiteter Reformbemühungen zu 
verstehen sind, leuchtet ein. Die grundlegenden Veränderungen von 1864 blieben in 
Kraft, wurden aber, vor allem im Bereich der Geschworenengerichte, modifiziert.
98
 
Die Bedeutung der Geschworenengerichte und der unabhängigen Justiz generell lag 
darin – und daran vermochten auch die „Gegenreformen“ nichts zu ändern –, dass das 
Gewaltmonopol des Autokraten nun beschnitten war – mit weitreichenden Folgen.
99
 Der 
Zar und seine Beamten konnten nicht mehr nach Belieben in Gerichtsverfahren ein­
greifen und Urteile nach Wunsch herbeiführen; mit den Geschworenengerichten lag die 
Schuldfindung gar in den Händen der Gesellschaft. Darüber hinaus wurde der Gerichts­
saal zur Keimzelle einer „Öffentlichkeit“
100
, weil die Verhandlungen teilweise zugäng­
lich waren, die Verhandlungsprotokolle publiziert werden mussten und oppositionelle 
Anwälte ein Forum für ihre politischen Meinungen fanden. Der Anwaltsberuf erlangte 
eine eminent politische Bedeutung, die zunehmend von linken Kreisen erkannt und zu 
Propagandazwecken genutzt wurde.
101
 Das, aber auch relativ milde Urteile in politischen 
Prozessen war Munition für die Gegner des erneuerten Justizwesens. Dieses entsprach 
keinem Ideal; es war fehlerhaft, erfasste nicht alle rechtlichen Bereiche und nicht das 
ganze Imperium.
102
  Problematisch blieb die politische Justiz, da die Appellationshöfe 
keine Berufungsinstanz kannten. Auch konnten Sonder- und Militärgerichte eingesetzt 
96 Eindringlich hat Jörg Baberowski diese Zusammenhänge in seinen Beiträgen zur Justiz im ausge­
henden Zarenreich herausgearbeitet, vgl. seine Dissertation zur politischen Justiz im ausgehenden Za­
renreich, B
ABEROWSKI
 Autokratie, bes. S. 3–6, sowie B
ABEROWSKI
 Justizwesen, S. 157–159, und 
DERS

Konstitution, S. 370–376.
97 Vgl. B
ABEROWSKI
 Justizwesen, S. 160, der in diesem Zusammenhang von einer „Farce“ spricht. R
ABE
 
Justiz, S. 1535, hebt hervor, dass die Geschworenengerichte von Anfang an in der Bevölkerung auf 
wenig Rückhalt gestoßen seien; die Geschworenen, die auf der Stufe der Selbstverwaltung ausgewählt 
wurden, erhielten keine Entschädigung und waren unzureichend auf ihre Aufgabe vorbereitet.
98 B
ABEROWSKI
  Justizwesen, S. 160–162,  B
ABEROWSKI
  Konstitution, S. 376f., und  R
ABE
  Justiz, S. 1536. 
Vgl. zur Gegenposition, die in der sowjetischen und auch in der älteren westlichen Historiographie 
vorherrschend war, Z
AIONCHKOVSKY
 Autocracy, S. 137–153.
99 Vgl. B
ABEROWSKI
 Justizwesen, S. 162. D
ALY
 Punishment, S. 346, schreibt in diesem Zusammenhang: 
„Russia ceased to be an autocracy and became a species of semiabsolutist monarchy.“
100 Der Begriff der „bürgerlichen Öffentlichkeit“ im Sinne von Jürgen Habermas (vgl. H
ABERMAS
 Struk­
turwandel, bes. S. 69–85), die kontrollierende Wirkung entfaltet hätte, lässt sich nicht ohne weiteres 
von den westeuropäischen Kontexten, innerhalb derer er entwickelt wurde, auf die russische Gesell­
schaft übertragen; eine „bürgerliche Gesellschaft“ gab es im ausgehenden Zarenreich noch nicht im 
vergleichbaren Muster, auch wenn sich zivilgesellschaftliche Strukturen vor allem in der letzten Phase 
nach 1905 erkennen lassen. Vgl. dazu die Ausführungen bei  H
ILDERMEIER
  Zivilgesellschaft, S. 128–
132, auch vor dem Hintergrund der Errungenschaften der Justizreform. Hildermeier orientiert sich be­
züglich der entstehenden „Öffentlichkeit“ ebenfalls nicht an Habermas.
101 B
ABEROWSKI
 Justizwesen, S. 163, und R
ABE
 Justiz, S. 1539.
28


2.2. Die „Großen Reformen“ und die ersten Phasen des Terrors
werden.
103
 Die faktische Gewaltenteilung im autokratischen Staat, die zu einer ständigen 
Konfrontationslinie wurde,
104
 bedeutete dennoch einen Meilenstein für Russland. 
2.2.2. Terror und Neuorganisation der staatlichen Sicherheit
Die Reformen der 1860er Jahre verschärften den Anachronismus der Staatsform. Eine 
sich weiterhin absolutistisch gebende Spitze existierte nun neben einer weitgehend un­
abhängigen Justiz und selbstverwalteten Land- und Stadtgebieten; der kritische Geist 
der intelligencija bzw. der raznočincy
105
, überhaupt die Partizipation der Gesellschaft im 
Reich,   waren   nicht   erwünscht.
106
  Die   wirtschaftliche   und   technische   Entwicklung
107
 
machte große Fortschritte und setzte ihrerseits Kräfte frei, die ins Leere liefen – mehr 
Menschen   erwarben   eine   gute   Ausbildung   und   suchten   dementsprechend  nach   Ent­
faltungsmöglichkeit. Gleichzeitig waren soziale Verschiebungen, vor allem im Zuge der 
Industrialisierung,   zu   beobachten.   Die   Arbeiterschaft   wuchs   gegen   Ende   des   Jahr­
hunderts immer stärker an.
108
 
Der Unmut und der Wille zum Aufbruch ließen sich jedoch nicht mehr länger unter­
drücken. Im Zuge der Agrarreformen kam es 1863/64 zu Studentenunruhen und zur 
kurzzeitigen   Bildung   der   oppositionell-revolutionären   Bewegung  „Zemlja   i   volja“ 
(„Land und Freiheit“).
109
 1866 wurde ein Attentat auf den Zaren verübt, das aber miss­
lang.
110
 In der Folge erhielt zunächst der friedliche Weg vor dem terroristischen den Vor­
102 In den baltischen Provinzen, in Sibirien und in Mittelasien wurde die Reform erst sehr viel später und 
unvollständig (Verzicht auf Geschworenengerichte) umgesetzt, vgl. B
ABEROWSKI
 Konstitution, S. 388–
390.
103 Dies vor allem während der Terrorkampagnen Ende der 1870er und Anfang der 1880er Jahre sowie 
nach 1905. Vgl.  R
ABE
  Justiz, S. 1533,  B
ABEROWSKI
  Justizwesen, S. 164f., und  D
ALY
  Punishment, S. 
347.
104 Vgl. B
ABEROWSKI
 Autokratie, S. 9, und B
ABEROWSKI
 Justizwesen, S. 165f.
105 Die Bezeichnung raznočincy („Verschiedenrangige“) fasst die sich im Zuge der gesellschaftlich-poli­
tischen Emanzipation immer stärker artikulierenden Gruppe von Personen zusammen, die nicht im 
traditionellen, auf Peter I. zurückgehenden Ständewesen verortet werden konnten; darin fanden sich 
Adlige, kleine Beamte, Publizisten, Professoren, Schriftsteller,  Rechtsanwälte. Vgl.  H
AUMANN
  Ge­
schichte, S. 335.
106 Einer der „Urnihilisten“, N. G. Černyševskij, der sich am radikalen Materialismus vor allem deutscher 
Gelehrter orientierte und sich als Publizist und Schriftsteller hervortat (u.a. mit dem im Gefängnis ge­
schriebenen, sozialutopischen Roman „Čto delat’?“ – „Was tun?“), wurde 1864 in die Katorga ge­
schickt (bis 1872 im Kreis Nerčinsk) und anschließend in die Ansiedlung nach Viljujsk (Jakutien). In 
der   traditionellen   (sowjetischen)   Katorga-Forschung  gilt   er   als   einer   der   Prototypen   des  politka­
toržanin  in Ostsibirien. Vgl.  S
TÖKL
  Geschichte, S. 567–570,  D
VORJANOV
  V sibirskoj, S. 70–82, und 
bes. für die Katorga-Zeit Skripilev, N. G. Černyševskij, S. 61–82.
107 Abgesehen   von  der   Industrialisierung  ist   auch   an  die   Transsibirische   Eisenbahn  zu  denken,  vgl. 
M
ARKS
 Road.
108 Vgl. R
OGGER
 Russia, S. 132f. sowie den Überblick bei Hildermeier, Revolution, S. 24–33, zur Indus­
trialisierung und wirtschaftlichen Modernisierung, zu Städtewachstum und Arbeiterschaft bes. S. 27; 
vgl. auch B
ABEROWSKI
 Konstitution, S. 399, zur ökonomisch und sozial bedingten Instabilität, die in­
stitutionell nicht aufgefangen werden konnte. 
109 Zur revolutionären Bewegung vgl. die Übersicht bei H
AUMANN
 Geschichte, S. 379–388, und bei Hil­
dermeier, Revolution, S. 33–46. Vgl. auch R
OGGER
 Russia, S. 134–140.
110 Vgl. D
ALY
 Autocracy, S. 4. Es war dies der erste Anstoß für eine polizeiliche Neuordnung, vgl. weiter 
unten.
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