Osteuropa-institut



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OSTEUROPA-INSTITUT MÜNCHEN  Mitteilung Nr. 56
zugehen – „Die ganze Welt ist eingeschlossen in vier Wände.“
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 Kraft schöpfte sie aus 
dem Blick zurück in die Vergangenheit, aus dem Zusammenhalt unter den Genossinnen, 
aus der Literatur, die ihr die verschlossene Außenwelt zumindest in Gedanken öffnete, 
und aus den Träumen, die sie in die Freiheit entführten. Dennoch war es für sie anfangs 
„eigentlich nicht zu glauben, dass es möglich ist, in dieser Eintönigkeit Jahre zu ver­
leben.“
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 Ganz anders erlebte Feliks Kon den Anfang in der Katorga: „Die erste Zeit un­
seres Aufenthalts an der Kara machte auf uns einen unvergesslichen Eindruck. […] Es 
war gut an der Kara …“,
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 hält er fest. Der Unterschied in der Wahrnehmung war vor al­
lem ein psychischer, zutiefst individueller – oder, allenfalls, auch ein geschlechtsspe­
zifischer. Denn beide, Kachovskaja 1908 im Mal’cevskaja-Gefängnis und Kon 1886 im 
Gefängnis für politische Häftlinge in Nižnjaja Kara, gelangten in vergleichsweise vor­
zügliche Umstände, sowohl hinsichtlich der sozialen Verhältnisse unter den Häftlingen 
als auch bezogen auf das herrschende Regime, das – zumindest für die Anfangsphase – 
von beiden als erträglich dargestellt wird.
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4.1.1. Die Welt der Katorga von außen: Landschaft und Gefängnisbauten
Anzukommen in der Katorga bedeutete zweierlei: eine von allen bekannten Gegenden 
des Reiches ferne, „andere“ Welt zu erreichen, die sich in der ungewohnten Landschaft 
Transbaikaliens und in den Gefängnisbauten den Häftlingen äußerlich offenbarte, und 
im praktisch gleichen Augenblick hinter den Mauern einen höchstens durch die gesell­
schaftliche Konstituierung auf dem Weg nach Osten vorstellbaren Katorga-Alltag anzu­
treten.  Mit  letzterem  haderte  Kachovskaja.   Die  äußeren Bedingungen  – die  „andere 
Welt“ – spiegelten sich im Innenleben insofern, als die landschaftliche Umgebung we­
der im Kara-Tal noch im südlich der Šilka gelegenen Nerčinsker Kreis Trost zu spenden 
vermochte. Im Gegenteil: Die naturräumliche Gestalt der Region verstärkte den Ein­
druck, ans Ende der Welt gelangt zu sein. Alfred Graf Keyserling, der Ende der 1880er 
Jahre in seiner Funktion als „Beamter zu besonderen Aufträgen“ im Dienst des General­
gouverneurs für das Amurgebiet, Baron Korff, als interimistischer Gefängnisoberver­
walter ins Kara-Tal entsandt worden war, schildert in den Erinnerungen an seine Zeit in 
Sibirien die Gegend an der Šilka als „wild zerklüftetes bewaldetes Gebirgsland, durch­
schnitten von kleinen Flüssen und Flüsschen“, das nur dünn besiedelt ist. An der Mün­
dung der Kara in die Šilka öffnet sich ein breiter Taleingang mit der Siedlung Ust’-Kara, 
der sich nach einigen Kilometern wieder verengt, bevor sich die Landschaft beim Ver­
waltungspunkt Nižnjaja Kara neuerlich weitet.
314
 Kennan beschreibt ein flaches Tal mit 
Sand- und Kiesböden, einer Breite von rund einer halben Meile und flankierenden nied­
rigen Hügeln mit Lärchen- und Kiefernwald.
315
 Je nach Jahreszeit und Witterungsbedin­
310 K
ACHOVSKAJA
 Iz vospominanij, S. 77.
311 K
ACHOVSKAJA
 Iz vospominanij, S. 77.
312 K
ON
 Pod znamenem, S. 263.
313 K
ACHOVSKAJA
  Iz vospominanij, S. 76f., und  K
ON
  Pod znamenem, S. 263.  Ähnlich die Berichte von 
Mithäftlingen, im Falle Kachovskajas etwa Pirogova, im Falle Kons Deutsch. Zum Verhalten der Ge­
fängnisobrigkeit vgl. Kap. 4.6. (S. 115)
314 K
EYSERLING
  S. 28f. An beiden Orten befanden sich Gefängnisbauten, in Nižnjaja Kara ab 1880 das 
spezielle Gefängnis für die politischen Häftlinge.
68


4.1. Ankommen im „Archiv der Revolutionäre“
gungen war das Gebiet praktisch von der Außenwelt abgeschnitten, was, zusätzlich zur 
fast menschenleeren Landschaft, die Abgeschiedenheit verstärkte.
316
 
Widersprüchlicher, aber im Gesamteindruck eher noch abschreckender erscheint in 
den Schilderungen von Außenstehenden und Gefangenen das Gebiet des Nerčinsker Sil­
berminendistrikts. Die Landschaft zwischen Šilka und Argun, dem Grenzfluss zur Mon­
golei, ist durch eine Mischung aus Taiga im nördlicheren Teil, steppenartigen, kargen 
Ebenen im Süden und sanften, meist unbewaldeten Hügeln geprägt. Dazwischen befin­
den sich die Ortschaften mit den Gefängnissen.
317
 De Windt zeichnet ein idyllisches Bild 
von der Gegend als Ganzem:
„The distant mountains, wide stretches of thyme-scented moorland, pine forests carpeted 
with fern and wild flowers, and pretty villages dotted ower the smiling landscape, quite 
justify the name of ‹Siberian Switzerland› that has been given to this district.“
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In diese bewundernde Darstellung passt die Wahrnehmung Gennadij Čemodanovs, der 
als Kommandant der (militärischen) Bewachungstruppen (konvojnaja komanda) in den 
Katorga-Gefängnissen von Kadaja, Kutomara und Gornyj Zerentuj tätig war und in sei­
nem   Erinnerungsbericht   den   Eindruck   erweckt,   es   handle   sich   um   einen   lieblichen 
Landstrich, etwa wenn er das Zusammenspiel eines Kranzes „sehr hoher Hügel“, eines 
nicht allzu breiten Tals und eines gemächlichen Flusslaufs bei Kadaja hervorhebt.
319
 
Noch mehr würdigt er die Landschaft bei Kutomara: Die kahlen Hügel weichen kurz vor 
dem Gefängnisort einer reichen Waldvegetation, hinter der hohe Berge aufsteigen. „Die 
Umgebung von Kutomara ist bezüglich ihrer Natur die wertvollste und die malerischste 
im ganzen Gebiet der Katorga“, schreibt Čemodanov, der sich besonders gern der Jagd 
widmete und dafür wahrhaft paradiesische Zustände vorfand.
320
 Allerdings blieben diese 
Vorzüge, wie Čemodanov selbst einräumt, jenen vorbehalten, die sich frei bewegen 
konnten. Für die Gefängnisinsassen sei Kutomara sogar der „trostloseste Ort der ganzen 
Katorga“, weil sich die Gefängnisanlage mitten in einer Sumpf- und Kanallandschaft 
befinde, so dass es in den Gebäuden und um diese herum beständig feucht und unwirt­
lich sei.
321
 
Noch öder erscheint allerdings das Tal von Akatuj. Die zwischen den kargen Hügeln 
eingeschnittenen Täler und Talmulden des Nerčinsker Kreises wirkten auf Kennan be­
sonders düster, vor allem aber gilt dies für das Gebiet des – bei seinem Besuch im Win­
ter 1885 noch leer stehenden – Gefängnisses von Akatuj, das etwas abseits der Routen 
315 K
ENNAN
 Siberia II, S. 138. „The road ran up the left bank of the Kará River through a shallow valley 
averaging about half a mile in width, bounded by low hills that were covered with a scanty second 
growth of young larches and pines [...].“ Kennan besuchte die Region im Winter.
316 K
ENNAN
 Siberia II, S. 131.
317 Die   Schilderungen   in   den   Erinnerungsberichten   sind   meist   nur   kurze   Seitenblicke,   etwa   bei 
R
ADZILOVSKAJA
/O
RESTOVA
 Katorga, S. 21, oder in der sehr trostlosen Beschreibung bei Ž
UKOV
 Katorga, 
S. 173.
318 D
E
 W
INDT
 Siberia, S. 243f.
319 Č
EMODANOV
 Katorga, S. 15.
320 Č
EMODANOV
 Katorga, S. 31.
321 Č
EMODANOV
 Katorga, S. 32. Die unterschiedliche Wahrnehmung der äußeren Umstände zeigt sich hier­
in exemplarisch. Inwieweit der Einwand zugunsten der Gefangenen auch auf die unklar bleibenden re­
daktionellen Einflüsse bei der Herausgabe des Erinnerungsberichts zurückgeht, lässt sich höchstens 
erahnen (vgl. die quellenkritischen Ausführungen im Kap. 1.4., S. 13).
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