4.1. Ankommen im „Archiv der Revolutionäre“
gungen war das Gebiet praktisch von der Außenwelt abgeschnitten, was, zusätzlich zur
fast menschenleeren Landschaft, die Abgeschiedenheit verstärkte.
316
Widersprüchlicher, aber im Gesamteindruck eher noch abschreckender erscheint in
den Schilderungen von Außenstehenden und Gefangenen das Gebiet des Nerčinsker Sil
berminendistrikts. Die Landschaft zwischen Šilka und Argun, dem Grenzfluss zur Mon
golei, ist durch eine Mischung aus Taiga im nördlicheren Teil, steppenartigen, kargen
Ebenen im Süden und sanften, meist unbewaldeten Hügeln geprägt. Dazwischen befin
den sich die Ortschaften mit den Gefängnissen.
317
De Windt zeichnet ein idyllisches Bild
von der Gegend als Ganzem:
„The distant mountains, wide stretches of thyme-scented moorland, pine forests carpeted
with fern and wild flowers, and pretty villages dotted ower the smiling landscape, quite
justify the name of ‹Siberian Switzerland› that has been given to this district.“
318
In diese bewundernde Darstellung passt die Wahrnehmung Gennadij Čemodanovs, der
als Kommandant der (militärischen) Bewachungstruppen
(konvojnaja komanda) in den
Katorga-Gefängnissen von Kadaja, Kutomara und Gornyj Zerentuj tätig war und in sei
nem Erinnerungsbericht den Eindruck erweckt, es handle sich um einen lieblichen
Landstrich, etwa wenn er das Zusammenspiel eines Kranzes „sehr hoher Hügel“, eines
nicht allzu breiten Tals und eines gemächlichen Flusslaufs bei Kadaja hervorhebt.
319
Noch mehr würdigt er die Landschaft bei Kutomara: Die kahlen Hügel
weichen kurz vor
dem Gefängnisort einer reichen Waldvegetation, hinter der hohe Berge aufsteigen. „Die
Umgebung von Kutomara ist bezüglich ihrer Natur die wertvollste und die malerischste
im ganzen Gebiet der Katorga“, schreibt Čemodanov, der sich besonders gern der Jagd
widmete und dafür wahrhaft paradiesische Zustände vorfand.
320
Allerdings blieben diese
Vorzüge, wie Čemodanov selbst einräumt, jenen vorbehalten, die sich frei bewegen
konnten. Für die Gefängnisinsassen sei Kutomara sogar der „trostloseste Ort der ganzen
Katorga“, weil sich die Gefängnisanlage mitten in einer Sumpf- und Kanallandschaft
befinde, so dass es in den Gebäuden und um diese herum beständig feucht und unwirt
lich sei.
321
Noch öder erscheint allerdings das Tal von Akatuj. Die zwischen den kargen Hügeln
eingeschnittenen Täler und Talmulden des Nerčinsker Kreises wirkten auf Kennan be
sonders düster, vor allem aber gilt dies für das Gebiet des – bei seinem Besuch im Win
ter 1885 noch leer stehenden – Gefängnisses von Akatuj, das etwas abseits der Routen
315 K
ENNAN
Siberia II, S. 138. „The road ran up the left bank of the Kará River through a shallow valley
averaging about half a mile in width, bounded by low hills that were covered with a scanty second
growth of young larches and pines [...].“ Kennan besuchte die Region im Winter.
316 K
ENNAN
Siberia II, S. 131.
317 Die Schilderungen in den Erinnerungsberichten sind meist nur kurze Seitenblicke, etwa bei
R
ADZILOVSKAJA
/O
RESTOVA
Katorga, S. 21, oder in der sehr trostlosen Beschreibung bei Ž
UKOV
Katorga,
S. 173.
318 D
E
W
INDT
Siberia, S. 243f.
319 Č
EMODANOV
Katorga, S. 15.
320 Č
EMODANOV
Katorga, S. 31.
321 Č
EMODANOV
Katorga, S. 32. Die unterschiedliche Wahrnehmung der äußeren Umstände zeigt sich hier
in exemplarisch. Inwieweit der Einwand zugunsten der Gefangenen auch auf die unklar bleibenden re
daktionellen Einflüsse bei der Herausgabe des Erinnerungsberichts zurückgeht, lässt sich höchstens
erahnen (vgl. die quellenkritischen Ausführungen im Kap. 1.4., S. 13).
69