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OSTEUROPA-INSTITUT MÜNCHEN  Mitteilung Nr. 56
Katorga-Haft geben konnte – bei erträglichem Regime und einigermaßen geordneten 
Haftumständen.
346
 
Das Hauptproblem des russischen Gefängniswesens, die überfüllten Strafanstalten, 
wurde für die politische Katorga in Transbaikalien besonders ab 1905 virulent, als die 
Zahl der Häftlinge sprunghaft anstieg.
347
 In der ersten Hälfte der 1880er Jahre, nach der 
Zerschlagung der „Narodnaja volja“ im Zuge des Attentats auf Alexander II., war die 
Überbelegung auch an der Kara ein Problem. Das politische Gefängnis von Nižnjaja Ka­
ra, für 80 Insassen vorgesehen, musste einige Zeit über 120 Sträflinge beherbergen. Und 
im  (zeitweiligen) Frauengefängnis für „Politische“  in  Ust’-Kara, das im  ehemaligen 
Karzertrakt für die ugolovnye untergebracht war, hatten die weiblichen Sträflinge zu Be­
ginn der achtziger Jahre in den ohnehin völlig ungeeigneten, viel zu kleinen, dreckigen 
und winters eisig kalten Einzelzellen in Mehrfachbelegung zu leben.
348
 Zwischendurch 
und, je nach Ort auch nach 1905, waren die Verhältnisse in den Katorga-Gefängnissen 
in der Regel deutlich besser als in den Deportations- und den Etappengefängnissen,
349
 
was ohne Zweifel auch dem Umstand geschuldet war, dass sich die Häftlinge nun über 
längere Zeit in einer Zelle einrichten mussten und zwingend auch für ihre unmittelbare 
Umgebung verantwortlich waren. Allerdings schränkte die Überbelegung ein derartiges 
Mindestmaß an Ordnung und verhältnismäßiger Behaglichkeit, wie sie an der Kara in 
der zweiten Hälfte der achtziger Jahre durchaus herzustellen war, stark ein oder verun­
möglichte sie ganz. So wurde Ivan Starodubcev 1915 in Gornyj Zerentuj in einer Zelle 
untergebracht, die für 47 Personen vorgesehen war, nun aber 127 Häftlinge aufnehmen 
musste. Schlafplätze gab es daher notgedrungen überall im Raum: auf und unter den 
Pritschen, auf und unter dem Tisch. Kein Wunder, dass diese Bedingungen die Wanzen­
plage in besonderem Maß beförderten.
350
 Von Gestank, rußenden Lampen und einer dre­
ckigen Brühe auf dem Fußboden in den Zellen berichtet Pavel Vasil’ev, als er Ende 
1909 via Algači und Kazakovo ins Bergwerksgefängnis Novotroick, im südlichen Teil 
des Nerčinsker Kreises, kam.
351
  Im Frauengefängnis von Mal’cevskaja blieb die Ord­
nung zwar bis zur Überführung der Häftlinge nach Akatuj gewahrt, aber auch hier war 
im Zeitraum von 1907 bis 1911 eine Zunahme von 14 auf 62 Gefangene zu bewäl­
tigen.
352
4.2. Die Katorga-Gesellschaft: In der Kommune der „Politischen“
Der Eintritt in die Katorga-Gesellschaft fand stufenweise statt. Er begann bereits an den 
Ausgangspunkten der Reise nach Osten, in den großen Gefängnissen des russischen 
346 D
EUTSCH
 Sechzehn Jahre, S. 237f.
347 Vgl. D
ALY
 Punishment, S. 357. Vgl. auch die vorangegangenen Ausführungen zu den Phasen und Di­
mensionen im Kap. 3.1.3 (S. 41).
348 Vgl. die Ausführungen bei M
OŠKINA
 Katorga, S. 33, basierend auf einem Bericht Elizaveta Koval’ska­
jas, sowie Ž
UKOV
 Iz nedr, S. 73, und P
RIBYLEVA
 Moi vospominanija, S. 130f.
349 K
ACZYNSKA
 Gefängnis, S. 106.
350 S
TARODUBCEV
  Gornyj Zerentuj, S. 174f. Er fand das Katorga-Gefängnis keineswegs angenehmer als 
das Gefängnis von Tobol’sk, wo er bereits die vorangegangenen acht Jahre verbracht hatte; er sei von 
dort nicht an derart widerliche Umstände gewöhnt.
351 V
ASIL

EV
 Promysly, S. 196.
352  R
ADZILOVSKAJA
/O
RESTOVA
 Katorga, S. 20.
74


4.2. Die Katorga-Gesellschaft: In der Kommune der „Politischen“
Kernlandes und seiner westlichen Provinzen, und setzte sich, wie dargestellt, auf dem 
beschwerlichen Weg nach Sibirien fort. Unterwegs konstituierte sich der soziale Raum 
der Katorga insofern, als sich Grundmuster des Zusammenlebens der „Politischen“ un­
tereinander einerseits und der „Politischen“ und der Kriminellen miteinander anderseits 
herausbildeten. Angekommen in der Katorga, öffnete sich noch einmal eine ganz neue 
Welt. Die Landschaft an der Kara und im Nerčinsker Kreis, die Gefängnisanlagen und 
die   Einrichtung   der   Zellen   steckten   den   Rahmen   dieser   Welt   ab,   stellten   die   Hin­
tergrundfolie dar für die Häftlingsgesellschaft, die durch die Ein- und Austritte einem 
ständigen Wandlungsprozess unterworfen war, aber gleichwohl ihren spezifischen, kon­
tinuierlichen   Regeln   gehorchte.   In   den   Gemeinschaftszellen   formierten   sich   Unter­
einheiten dieses sozialen Raumes – einzelne Kerne der Gesellschaft, die in sich wieder­
um eine eigene Differenzierung kannten. Hier war jeder dem andern am nächsten; es 
gab keine Privatsphäre und höchstens tagsüber, wenn, wie es oft der Fall war, die Zel­
lentüren zum Flur hin offen standen, eine räumliche Ausweichmöglichkeit.
353
 Levčenko 
schreibt dazu:
„Das Leben eines jeden verlief unter dem Blick aller und das [Leben] aller unter dem 
Blick eines jeden. Als Folge davon musste sich jeder selbst disziplinieren, indem er auf 
persönliche Bequemlichkeiten und Interessen zum Nutzen aller verzichten musste. Das 
war unabdingbar hinsichtlich  der Ordnung und Solidarität,  und man muss einräumen, 
dass das Gefängnis diese schwierige Aufgabe unter den unmenschlichen Bedingungen 
glänzend erfüllte.“
354
Die Katorga-Gesellschaft der politischen Häftlinge baute auf dieser gegebenen, uneinge­
schränkten Nähe ihrer Mitglieder zueinander auf. Diese Ordnung war sicherlich in erster 
Linie  aus  der  Not   der  Gefängnisbedingungen  heraus  geboren,  wie  es  Levčenko  an­
spricht; aber sie entsprach auch den gesellschaftspolitischen Vorstellungen der Sträf­
linge – der Revolutionäre – von Gleichheit und Solidarität. „In diesem Sinn stellte sich 
unser Zusammenleben dar als eine kleine Ecke des zukünftigen gesellschaftlichen Le­
bens“, bemerkt Irina Kachovskaja.
355
 Bereits unterwegs hatten die Gefangenen eine „Ge­
nossenschaft“  (artel’)  gegründet, um alles, was ihnen zur Verfügung stand, brüderlich 
zu teilen.
356
 Nicht anders war die Gepflogenheit in der Katorga-Gesellschaft – in den Er­
innerungsberichten wird fast schon ein Ideal gezeichnet. Die katoržane konnten sich in 
einer Kommune (kommuna) organisieren; Feliks Kon erklärt: „Aufgrund der ‹Konstitu­
tion› von Kara übergaben die Häftlinge alle materiellen Mittel, die sie von Verwandten 
oder Bekannten bekommen hatten, dem allgemeinen Gebrauch.“
357
 Das bedeutete, dass 
jedes Mitglied das gleiche Essen und denselben zusätzlichen, von der Gefängnisadmi­
nistration ausgegebenen und verwalteten Geldbetrag erhielt; dieser setzte sich aus Antei­
len des Staates und aus den Zuwendungen zusammen, die von Verwandten einiger Häft­
linge regelmäßig oder gelegentlich geschickt wurden. Die Summe belief sich zu Kons 
Zeiten, je nach wirtschaftlicher Lage des Gefängnisses, auf einen Betrag von 75 bis 150 
353 Die Türen wurden abends nach der Kontrolle (poverka) geschlossen, vgl. K
ON
 Pod znamenem, S. 261. 
354 L
EVČENKO
 Pobeg, S. 56.
355 K
ACHOVSKAJA
 Iz vospominanij, S. 84.
356 Vgl. Fußnote 243.
357 K
ON
 Pod znamenem, S. 268. D
EUTSCH
 Sechzehn Jahre, S. 208, betont die Freiwilligkeit der Zugehörig­
keit zur Kommune.
75


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