4.2. Die Katorga-Gesellschaft: In der Kommune der „Politischen“
Kernlandes und seiner westlichen Provinzen, und setzte sich, wie dargestellt, auf dem
beschwerlichen Weg nach Sibirien fort. Unterwegs konstituierte sich der soziale Raum
der Katorga insofern, als sich Grundmuster des Zusammenlebens der „Politischen“ un
tereinander einerseits und der „Politischen“ und der Kriminellen miteinander anderseits
herausbildeten. Angekommen in der Katorga, öffnete sich noch einmal eine ganz neue
Welt. Die Landschaft an der Kara und im Nerčinsker Kreis, die Gefängnisanlagen und
die Einrichtung der Zellen steckten den Rahmen dieser Welt ab, stellten die Hin
tergrundfolie dar für die Häftlingsgesellschaft, die durch die Ein- und Austritte einem
ständigen Wandlungsprozess unterworfen war, aber gleichwohl ihren spezifischen, kon
tinuierlichen Regeln gehorchte. In den Gemeinschaftszellen formierten sich Unter
einheiten dieses sozialen Raumes – einzelne Kerne der Gesellschaft, die in sich wieder
um eine eigene Differenzierung kannten. Hier war jeder dem andern am nächsten; es
gab keine Privatsphäre und höchstens tagsüber, wenn, wie es oft der Fall war, die Zel
lentüren zum Flur hin offen standen, eine räumliche Ausweichmöglichkeit.
353
Levčenko
schreibt dazu:
„Das Leben eines jeden verlief unter dem Blick aller und das [Leben] aller unter dem
Blick eines jeden. Als Folge davon musste sich jeder selbst disziplinieren, indem er auf
persönliche Bequemlichkeiten und Interessen zum Nutzen aller verzichten musste. Das
war unabdingbar hinsichtlich der Ordnung und Solidarität, und man muss einräumen,
dass das Gefängnis diese schwierige Aufgabe unter den unmenschlichen Bedingungen
glänzend erfüllte.“
354
Die Katorga-Gesellschaft der politischen Häftlinge
baute auf dieser gegebenen, uneinge
schränkten Nähe ihrer Mitglieder zueinander auf. Diese Ordnung
war sicherlich in erster
Linie aus der Not der Gefängnisbedingungen heraus geboren, wie es Levčenko an
spricht; aber sie entsprach auch den gesellschaftspolitischen Vorstellungen der Sträf
linge – der Revolutionäre – von Gleichheit und Solidarität. „In diesem Sinn stellte sich
unser Zusammenleben dar als eine kleine Ecke des zukünftigen gesellschaftlichen Le
bens“, bemerkt Irina Kachovskaja.
355
Bereits unterwegs hatten die Gefangenen eine „Ge
nossenschaft“
(artel’) gegründet, um alles, was ihnen zur Verfügung stand, brüderlich
zu teilen.
356
Nicht anders war die Gepflogenheit in der Katorga-Gesellschaft – in den Er
innerungsberichten wird fast schon ein Ideal gezeichnet. Die
katoržane konnten sich in
einer Kommune
(kommuna) organisieren; Feliks Kon erklärt: „Aufgrund der ‹Konstitu
tion› von Kara übergaben die Häftlinge alle materiellen Mittel, die sie von Verwandten
oder Bekannten bekommen hatten, dem allgemeinen Gebrauch.“
357
Das bedeutete, dass
jedes Mitglied das gleiche Essen und denselben zusätzlichen, von der Gefängnisadmi
nistration ausgegebenen und
verwalteten Geldbetrag erhielt; dieser setzte sich aus Antei
len des Staates und aus den Zuwendungen zusammen, die von Verwandten einiger Häft
linge regelmäßig oder gelegentlich geschickt wurden. Die Summe belief sich zu Kons
Zeiten, je nach wirtschaftlicher Lage des Gefängnisses, auf einen Betrag von 75 bis 150
353 Die Türen wurden abends
nach der Kontrolle (poverka) geschlossen, vgl. K
ON
Pod znamenem, S. 261.
354 L
EVČENKO
Pobeg, S. 56.
355 K
ACHOVSKAJA
Iz vospominanij, S. 84.
356 Vgl.
Fußnote 243.
357 K
ON
Pod znamenem, S. 268. D
EUTSCH
Sechzehn Jahre, S. 208, betont die Freiwilligkeit der Zugehörig
keit zur Kommune.
75