OSTEUROPA-INSTITUT MÜNCHEN
Mitteilung Nr. 56
lang still gelegen hatte und dessen Schächte sich in der Zwischenzeit mit Wasser gefüllt
hatten.
443
Nun sollten die Insassen des Gefängnisses von Akatuj die Mine wieder in Be
trieb nehmen. Bei den Planungen der neuen Ausgestaltung der Katorga-Strafe für „Poli
tische“ gingen die Verantwortlichen laut dem oben zitierten Dokument davon aus, dass
nicht alle
katoržane, die bisher in Nižnjaja Kara einsaßen, für die schwere Arbeit taug
lich sein würden; auch dies rechtfertigte in ihren Augen den Zuzug von genügend krimi
nellen Sträflingen, deren körperliche Leistungsfähigkeit grundsätzlich nicht in Zweifel
gezogen wurde und welche die Erfüllung der Normen sicherstellen sollten.
444
Auch der
Vorsteher der Gefängnishauptverwaltung, Galkin-Vraskij, erklärte anlässlich eines Be
suchs in Akatuj, der Arbeitseinsatz der Sträflinge bringe der Mine keine Rentabilität, sei
aber ein Mittel zur Besserung der Gefangenen.
445
Inwieweit er sich dabei auf die
Zwangsarbeit generell bezog oder nur auf die Leistungen der politischen Häftlinge, geht
aus der bei Orlov zitierten Aussage nicht hervor. An der Wirtschaftlichkeit der Berg
werksbetriebe im Nerčinsker Kreis zweifelte jedenfalls auch Harry De Windt, und
George Kennan war angesichts der
technischen Hilfsmittel, die zur Ausbeutung der Res
sourcen zur Verfügung standen, entsetzt – wobei es jedoch seinen amerikanischen Hin
tergrund zu berücksichtigen gilt.
446
Die Arbeit, welche die Häftlinge in den
Stollen zu verrichten hatten, war hart. Vor al
lem die Bohrarbeiten erforderten einen großen Krafteinsatz, die nötige Geschicklichkeit
bei der praktischen Arbeit und auch einige Übung; der mechanische Bohrer musste an
der richtigen Stelle angesetzt und mit einem starken Schlag in die Gesteinsschicht ge
trieben werden, die hier hauptsächlich aus Granit bestand. Pro Tag sollte ein Loch von
10
veršok gebohrt werden.
447
Waren zehn bis zwölf Bohrlöcher vollendet, führte der ver
antwortliche Aufseher eine Sprengung mit Dynamitpatronen durch.
448
Während einige
Häftlinge sich rasch an die Bohrarbeit oder an das Wegschaufeln des beim Bohren und
Sprengen anfallenden Gesteins gewöhnten, fehlte es anderen an der nötigen Kraft, so
dass sie – wie Petr Jakubovič-Mel’šin
oder Vasilij Čujko – zeitweise als Hilfskräfte dem
Schmied zugeteilt wurden, der die stumpf gewordenen Bohrer schärfen oder neue her
stellen musste.
449
Obwohl die schwere Arbeit den politischen Häftlingen in der Regel
größere Mühe bereitete als den
ugolovnye, die körperlich anstrengende Tätigkeiten aus
ihrem Vorleben eher gewohnt waren, waren die „Politischen“, nach ihrer eigenen Dar
stellung, nicht einfach die schlechteren Arbeiter – im Gegenteil. Die Arbeitsmoral der
443 Č
UJKO
God, S. 108f.
444 F
OMIN
Katorga, S. 17f. Das Bergwerk war, wie alle Bergwerke des Nerčinsker Kreises, Kabinetts
besitz.
445 O
RLOV
Ob Akatue, S. 109.
446 D
E
W
INDT
Siberia, S. 279, erwähnt vor allem die geringe Menge des ausgebeuteten Erzes, während
K
ENNAN
Siberia II, S. 298, sich über die Primitivität der Einrichtungen auslässt. Vgl. auch die Ausfüh
rungen zur Diskussion über das Verbannungssystem im Kap. 5 (S. 137).
447 Č
UJKO
God, S. 109f., und O
RLOV
Ob Akatue, S. 109. 1
veršok entspricht 4,4 Zentimetern (H
OFFMANN
Einführung, S. 204).
448 Č
UJKO
God, S. 111.
449 Č
UJKO
God, S. 110. Vgl. auch M
ELSCHIN
Im Lande 2, S. 5–18, und F
REJFEL
’
D
Iz prošlogo (okončanie),
S. 89. Der Schmied hatte wenig Freude an den ihm zugeteilten „Politischen“, weil er verbotenerweise
nebenher auf eigene Rechnung arbeitete und die politischen Häftlinge dabei für ihn unangenehme Be
obachter waren.
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4.3. Arbeiten in der Katorga
Kriminellen war sehr gering; sie bemühten sich mehr darum, Arbeit vorzutäuschen als
welche zu leisten.
450
Daher wurden die verantwortungsvollsten Aufgaben in den Stollen
den tüchtigsten und zuverlässigen „Politischen“ übertragen, wie Orlov vermerkt.
451
Ge
fährlich war die Bergwerksarbeit vor allem wegen den Sprengungen, heimtückisch we
gen den klimatischen Bedingungen. In den Stollen war es im Sommer beständig feucht,
so dass sich beispielsweise Jakubovič eine schwere Gelenkrheumatismus-Erkrankung
zuzog, die zu seinem frühen Tod nach der Freilassung beitrug.
452
Orlov empfand daher
die Arbeit im Winter als angenehmer, weil es tief unter der Erde warm und trocken
war.
453
Trotz der nicht zu unterschätzenden körperlichen Beanspruchung bedeutete die
Möglichkeit, arbeiten zu können, den
katoržane sehr viel. Čujko schreibt es sehr deut
lich:
„Die Regierung verstand schwerlich, dass sie uns, indem sie uns zusammen mit den Ver
brechern zu arbeiten verpflichtete, und überdies zu schwerer Arbeit, einen unschätzbaren
Dienst erwies [und] dass gerade schwere Arbeit unsere Rettung war. Eingesperrt in Zel
len zusammen mit Verbrechern, hätten wir uns zweifellos physisch und moralisch
schrecklich gefühlt. […] Der Berg
bewahrte unsere Gesundheit, unseren Geist.“
454
Wenngleich gerade der letzte Satz mit Blick auf jene, die sich ernsthafte, das weitere
Leben einschränkende Krankheiten in den Schächten zuzogen, zu relativieren ist, bestä
tigt diese Aussage doch die Einschätzung Kennans, ehemaliger Häftlinge und selbst des
Generalgouverneurs Anučin, dass die erzwungene Untätigkeit im nicht dafür ausgeleg
ten Gefängnis im Kara-Tal die psychische und physische Integrität der Insassen stark be
einträchtigt habe.
455
Die gemischten Zellen aus „Politischen“ und Kriminellen verschärf
te in Akatuj die Lage zusätzlich. Die organisatorischen Mängel im Verbannungssystem
wurden aber insofern nicht ausgemerzt, als es den Behörden nicht gelang, genügend Ar
beitsplätze für die Gefangenen zur Verfügung zu stellen; es war den lokalen Verant
wortlichen nicht möglich, mit Eigeninitiative Arbeitsressourcen freizusetzen, die es un
zweifelhaft gegeben hätte.
456
450 M
ELSCHIN
Im Lande 1, S. 108–114, schildert die ersten Arbeitstage im Bergwerk von Akatuj, als des
sen Stollen erst von Wasser befreit werden mussten. Die Kriminellen richteten es sich gemütlich ein
und gaben nur vor, Arbeit geleistet zu haben. Č
UJKO
God, S. 109, berichtet ebenfalls davon und er
wähnt, die
ugolovnye hätten mit dem Aufseher eine möglichst geringe Arbeitsleistung auszuhandeln
versucht. Auch O
RLOV
Ob Akatue, S. 109, schreibt von unehrlichen Arbeitspraktiken der kriminellen
Zwangsarbeiter.
451 O
RLOV
Ob Akatue, S. 109.
452 M
ELSCHIN
Im Lande 2, S. 334. Jakubovič lag längere Zeit im Krankenbett und ging nach dem Aus
bruch der Krankheit nicht mehr in den Stollen. Er starb 1911 51-jährig, vgl. die biographische Notiz
in M
ELSCHIN
Im Lande 2, S. 459–461.
453 O
RLOV
Ob Akatue, S. 109.
454 Č
UJKO
God, S. 112.
455 Nach seinem Besuch im Nerčinsker Kreis südlich der Šilka (Akatuj, Algači, Pokrovskoe, Alek
sandrovskij Zavod und andere), wo zu jener Zeit noch keine politischen Häftlinge untergebracht war
en, kommt Kennan nochmals auf die verfügte Untätigkeit im Kara-Tal zurück und erklärt, trotz dem
schlechten Ruf des Nerčinsker Kreises habe bei ihm dieser wegen der Arbeitsmöglichkeiten einen
besseren Eindruck hinterlassen als das Kara-Tal, vgl. K
ENNAN
Siberia II, S. 305: „It is not very pleas
ant, of course, to work eight oder ten hours every day in a dump or icy gallery 300 feet underground;
but even such employment is, I think, less prejudicial to health than unbroken confinement in a dirty,
overcrowded, and foul-smelling convict prison.“
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