Osteuropa-institut



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OSTEUROPA-INSTITUT MÜNCHEN  Mitteilung Nr. 56
zwei Welten innerhalb der einen Gesellschaft blieben zwar getrennt, allen wiederkeh­
renden Versuchen der Gefängnisadministration zum Trotz, die zwei Sphären aufzumi­
schen; aber das bedeutete nicht, dass keine Wechselwirkung und keine Beziehungen 
zwischen ihnen bestanden hätten, wenn es auch friktionsreiche waren. Das hat bereits 
der Weg in die Katorga gezeigt, und das offenbart sich auch beim Blick auf jene Phasen 
der Katorga, in denen die räumlichen Grenzen zwischen den politischen und kriminellen 
Häftlingen aufgebrochen waren.
4.4.1. Zwei Welten auf engem Raum
Die Konfrontation der politischen Häftlinge mit dem „Andern“ der Katorga der Krimi­
nellen beschränkte sich in den letzten Jahrzehnten des Zarenreichs oft auf den Weg nach 
Osten. Als Feliks Kon und seine Gefährten im Kara-Tal eintrafen, waren sie nicht nur 
froh, die beschwerliche Reise hinter sich gebracht zu haben, weil der Marsch von Etap­
pe zu Etappe alle Kräfte abverlangte, sondern auch deshalb, weil nun das beständige Zu­
sammensein mit den gemeinen Verbrechern ein Ende hatte.
479
  Seit Anfang der 1880er 
Jahre waren die zwei Welten in der Katorga an der Kara vollständig räumlich und admi­
nistrativ getrennt; die „Politischen“ saßen in einem eigenen Gefängnis ein und waren 
der Gendarmerie (und damit Petersburg direkt) unterstellt, und weil sie jeglicher Ar­
beitsmöglichkeiten außerhalb der hölzernen Palisade beraubt waren, gab es keinerlei 
Austausch zwischen den Häftlingsgruppen.
480
 Mit dem Eintritt in die Welt der Katorga 
verschwanden die ugolovnye aus dem Horizont der politischen Sträflinge.
Die Neuorganisation der transbaikalischen Katorga 1890 brachte zwei grundlegende 
Zäsuren. Wohl noch einschneidender als die erste – die Verpflichtung zur Arbeit – ver­
änderte die zweite das Leben der „Politischen“: die Gleichbehandlung der beiden Häft­
lingskategorien.   Im   wiedereröffneten   Gefängnis   von   Akatuj   wurden   die   politischen 
Häftlinge, die gegenüber den kriminellen deutlich in der Minderzahl waren, auf die Zel­
len verteilt.
481
  Die „Politischen“ verloren dadurch die Möglichkeit, ihren auf ihre Be­
dürfnisse ausgerichteten Lebensstil im Gefängnis zu pflegen, und mussten sich mit den 
Kriminellen   arrangieren.   Die   Verhältnisse,   wie   sie   auf   dem   Transport   nach   Osten 
herrschten, traten nun noch potenziert in Erscheinung; in den Etappengefängnissen wa­
und zum Verhältnis „Politische“ – Kriminelle ebd., S. 188–191. Andrew Gentes, dessen Dissertation 
zur Geschichte der Verbannung (G
ENTES
 Road) leider noch nicht publiziert ist, beschäftigt sich sowohl 
mit kriminellen als auch mit politischen Häftlingen.
479 K
ON
 Pod znamenem, S. 259.
480 Vgl. zusammenfassend M
OŠKINA
 Katorga, S. 22–24, und die Ausführungen im vorangegangenen Kap. 
4.3. (S.  86f.) zum Verhältnis von Arbeitsmöglichkeiten und Haftbedingungen. Die totale Isolierung 
betraf in den achtziger Jahren das Gefängnis von Kara; wie K
ACZYNSKA
 Gefängnis, S. 189f., schreibt, 
existierte im Katorga-Zentralgefängnis von Aleksandrovsk bei Irkutsk zur selben Zeit zwar ebenfalls 
eine räumliche Trennung, jedoch innerhalb desselben Gebäudes, so dass Nachrichten zwischen den 
politischen und kriminellen Sträflingen zirkulieren konnten. Gänzlich anders präsentierte sich die Si­
tuation auf der Sträflingsinsel Sachalin; vgl. dazu Kap. 4.7 (S. 130).
481 Č
UJKO
 God, S. 105f. Nicht nachvollziehbar ist der Satz bei K
ACZYNSKA
 Gefängnis, S. 190: „Am Ende 
des 19. Jahrhunderts verringerten sich die Kontakte zwischen beiden Gruppen, da die Transporte an­
ders organisiert wurden und man auch strikter auf gesonderte Unterbringung der politischen Gefange­
nen achtete.“ In den neunziger Jahren war die Nähe, allen gesichteten Quellen nach zu urteilen, be­
sonders groß.
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4.4. Die Katorga-Gesellschaft: „Politische“ und Kriminelle
ren den politischen Gefangenen eigene Verpflegung und oft getrennte Schlafräume zur 
Verfügung gestanden – jetzt konnten sie sich der Gesellschaft der ugolovnye kaum mehr 
entziehen. Während in zahlreichen Erinnerungsberichten weniger die Tatsache des ge­
meinsamen Alltags denn die Friktionen als Folgen dieser Nähe beklagt werden, betonen 
einzelne „Politische“ gegenüber De Windt ihr Unbehagen über das Zusammenleben mit 
brutalen Verbrechern auf engem Raum. Angeführt werden die mangelnde Privatsphäre 
und die Nächte, die anscheinend zuweilen – wie bereits unterwegs auf dem Etappenweg 
– in Orgien unter den Kriminellen ausarteten.
482
 De Windt selbst, der dem Verbannungs­
system generell wohlwollend gegenüberstand, findet für die gemeinsamen Zellen über­
raschend deutlich ablehnende Worte. Auch wenn es sich um die gefährlichsten politi­
schen Gefangenen handle, die nach Akatuj geschickt würden, sei es nicht nur „grausam, 
sondern auch unnötig“, diesen jegliche Privatsphäre zu nehmen, zumal diese Haltung in 
„direktem Widerspruch zum grundsätzlich humanen Modus der Behandlung“ stehe, wie 
er ihm aus anderen sibirischen Gefängnissen bekannt sei.
483
 
In Petr Jakubovič-Mel’šins fiktionalisierten „Erinnerungen“ an die Zeit in der Kat­
orga kommt die Ambivalenz von Nähe und Distanz zu den Kriminellen dadurch zum 
Ausdruck, dass er sich selbst für die erste Zeit im Gefängnis als der einzige „Politische“ 
unter vielen Dutzend Verbrechern darstellt und mit dieser – tatsachenwidrigen – Be­
schreibung die Einsamkeit und Fremdheit inmitten der Verbrecherwelt besonders ein­
drücklich herausheben kann.
484
 Jakubovič arbeitet in seiner literarischen Umsetzung der 
Erfahrungen in der gemischten Katorga-Gesellschaft überhaupt die Gratwanderung am 
eindringlichsten heraus, welche den Umgang der politischen mit den kriminellen Häft­
lingen auszeichnete. Selbst zuweilen einer Romantisierung der Verbrecherwelt nicht ab­
geneigt, sich aber zugleich seiner eigenen herausgehobenen Stellung bewusst, schwankt 
er in seinem Bild von seiner Umgebung zwischen Abscheu und Bewunderung und er­
teilt dem „Gutmenschentum“ gegenüber seinen Mithäftlingen eine Absage. Dass dieses 
sogar gefährlich werden konnte, wenn Nähe mit Vertrautheit verwechselt wurde und 
Naivität an die Stelle pragmatischer Distanz trat, schildert er am Fall eines politischen 
Leidensgenossen, der allzu vertrauensselig war und hernach, nach etwelchen Enttäu­
schungen, mit den Kriminellen nichts mehr zu tun haben wollte – was diese ihm und 
überhaupt den „Politischen“ übelnahmen.
485
 Das Beispiel zeigt, wie sehr die zwei Wel­
482 D
E
 W
INDT
 Siberia, S. 267f.
483 D
E
 W
INDT
 Siberia, S. 281f. Die angeführten Zitate sind aus dem englischen Original übersetzt.
484 Als Beispiel möge der erste Abend nach der Ankunft in „Schelai“ (Akatuj) dienen, der Jakubovič sei­
ne Situation reflektieren lässt (M
ELSCHIN
 Im Lande 1, S. 75f.): „Ich aber fand lange keinen Schlaf. Ich 
grübelte, ich dachte darüber nach, wohin ich geraten war und was mich in Zukunft erwartete; aber am 
meisten quälte mich der Gedanke an meine Einsamkeit mitten in dieser Menschenmenge, an meine 
besondere Situation. Allein der heutige Abend und die soeben gehörten Gespräche genügten, um zu 
begreifen, welch ungeheurer Unterschied zwischen ihnen und mir, einem gebildeten Menschen, in den 
Ansichten über das Leben, über menschliche Würde bestand.“
485 Die Schilderungen ziehen sich über viele Dutzend Seiten hinweg. Den Wandel ‚Walerjan Baschu­
rows‘ (vermutlich M. Stojanovskij; dieser kam nämlich zusammen mit Frejfel’d nach Akatuj, als der 
bei Jakubovič-Mel’šin ‚Dmitri Schtejngart‘ zu identifizieren ist, der mit ‚Baschurow‘ in „Schelai“ ein­
traf) belegen dessen naiv-positive Haltung gegenüber den Kriminellen einerseits (M
ELSCHIN
 Im Lande 
2, S. 61–63) und die ins Gegenteil umschlagende Revision seiner Meinung (ebd., S. 182) andererseits; 
dazu heißt es an letzterer Stelle über ‚Baschurow‘: „Mit demselben jugendlichen Feuer, mit dem er 
seine früheren Anschauungen vertreten hatte, verteidigte er jetzt seine neuen Ansichten, als wären sie 
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