Osteuropa-institut



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OSTEUROPA-INSTITUT MÜNCHEN  Mitteilung Nr. 56
Arbeitsmöglichkeiten gab es in den neunziger Jahren nicht allein in den Minen, ob­
schon die Mehrzahl zumindest der politischen Häftlinge in die Berge geschickt wurde. 
Auch der Gefängnisgarten wurde von Häftlingen bestellt. Einige bevorzugten jedoch 
trotz der frischen Luft die Bergwerksarbeit, weil die Aufsicht dort von Vertretern der 
Bergwerksbehörde wahrgenommen wurde, zu der ein gutes Verhältnis bestand,
457
 wäh­
rend   bei   den   Gartenarbeiten   die   weniger  beliebten   Gefängnisaufseher   das   Regiment 
führten.
458
 Gefangene waren überdies in Werkstätten beschäftigt; dort wurden in Akatuj 
unter anderem die Bücher und abonnierten Journale des Gefängnisdirektors Archan­
gel’skij   gebunden,   allerdings   hauptsächlich   von   kriminellen   Sträflingen;   andernorts, 
etwa in Gornyj Zerentuj, gab es eine Schreinerei.
459
 Weil die wirtschaftlichen Funktionen 
der transbaikalischen Katorga aber nur schwach ausgeprägt waren, fehlte, im Unter­
schied zu den Lagerwelten des 20. Jahrhunderts, ein differenziertes Feld von Tätigkei­
ten, die besonders qualifizierten Häftlingen offengestanden wären und eine Alternative 
zur körperlichen Schwerarbeit dargestellt hätten. Einzig in Ausnahmefällen griff die lo­
kale Gefängnisadministration auf speziell ausgebildete Gefangene zurück. Lev Frejfel’d, 
der einige Semester Medizin studiert hatte, bevor er verhaftet worden war, und der be­
reits auf dem Weg in die Katorga medizinische Hilfe geboten hatte, arbeitete zwar wie 
die meisten andern „Politischen“ im Schacht, wurde aber zusehends als ärztlicher Bera­
ter, einerseits  für  die  kranke Gattin   des Gefängnisdirektors und  anderseits   auch  bei 
Krankheitsfällen unter den Häftlingen, hinzugezogen, da es in Akatuj keinen ständigen 
Arzt gab. Als er nach Gornyj Zerentuj versetzt wurde, weitete sich sein medizinisches 
Tätigkeitsgebiet rasch aus, und er stieß auch jenseits der Gefängnismauern auf große 
Anerkennung.
460
4.3.3. Arbeiten in den letzten Jahren der transbaikalischen Katorga
Das Strafvollzugskonzept von 1890, das der Arbeit wieder zu einem zentralen Bestand­
teil der Zwangsarbeitsstrafe in Transbaikalien verhelfen sollte, scheiterte zum einen an 
der Unfähigkeit der Gefängnisbehörden in Organisationsfragen; die Arbeitsmöglichkei­
ten blieben eingeschränkt, die geleistete Arbeit war wenig effektiv, und die Gefahr von 
Fluchtversuchen blieb ein mit den zur Verfügung stehenden Ressourcen anscheinend 
nicht zu lösendes Hindernis – vor allem für den Einsatz politischer Häftlinge außerhalb 
der Strafanstalten. Zum andern stellten die Konjunkturen der Häftlingszahlen eine Be­
lastung für die transbaikalische Katorga dar. Hatte die Katorga am Ende des 19. Jahr­
hunderts zunächst an Bedeutung im Strafsystem eingebüßt, so war sie ab 1905 mit ei­
nem Zustrom von Verurteilten konfrontiert, der die bestehenden Einrichtungen in Ostsi­
birien in jeder Hinsicht überforderte.
461
 An Arbeit für alle war nicht zu denken; die poli­
456 Vgl.  D
E
  W
INDT
  Siberia, S. 249, und das Gespräch Kennans mit dem Gefängnisdirektor von Algači 
(damals noch ausschließlich ein Gefängnis für Kriminelle), der aus Furcht vor der Flucht von Häft­
lingen und wegen fehlender Anweisungen aus Petersburg die Gefangenen der überfüllten Strafanstalt 
nicht arbeiten ließ, K
ENNAN
 Siberia II, S. 294.
457 Orlov Ob Akatue, S. 110.
458 F
REJFEL

D
 Iz prošlogo (okončanie), S. 100.
459 F
REJFEL

D
 Iz prošlogo (okončanie), S. 98 und 102. 
460 F
REJFEL

D
 Iz prošlogo (okončanie), S. 94, 99 und 104f. 
461 Vgl. zu den Phasen und Dimensionen Kap. 3.1.3 (S. 41).
92


4.3. Arbeiten in der Katorga
tischen Sträflinge verbrachten den größten Teil ihrer Zeit in den Zellen, wo primär das 
geistige Leben den – phasenweise friktionsreichen – Alltag bestimmte.
462
 Dass auch die 
Katorga-Verwaltung den Zustand der fehlenden Arbeit nicht guthieß, geht aus einem 
Rapport des damaligen Nerčinsker Katorga-Vorstehers (načal’nik katorgi) Zabello über 
die Zustände in Gornyj Zerentuj im Herbst 1910 hervor. Darin würdigt Zabello das Be­
streben des kurzzeitigen Gefängnisdirektors Čemodanov, der mit der Einrichtung von 
Werkstätten im Gefängnis den Häftlingen eine Beschäftigungsmöglichkeit geboten hat­
te; dies habe sich auch positiv auf die Atmosphäre im Gefängnis ausgewirkt.
463
 In Kuto­
mara betrieben politische Sträflinge, die aus Zerentuj dorthin verlegt worden waren, zur 
Freude Čemodanovs anschließend die Werkstätten weiter.
464
 
Abseits   der   großen   Katorga-Gefängnisse   kamen   in   jenen   Jahren   (nach   1904)   in 
Transbaikalien beim Bau der Amur-Eisenbahn und in verschiedenen Minen Katorga-
Sträflinge zum Einsatz. Als Hölle auf Erden, als den grausamen Höhepunkt der Katorga, 
beschreibt   A.   M.   Tipunkov   die   Arbeiten   beim   Eisenbahnbau.   Tagsüber   seien   die 
Zwangsarbeiter den Bremsen, nachts Myriaden von Mücken ausgesetzt gewesen, und 
regelmäßig hätten sie sich bei der schweren Arbeit verstümmelt; zudem prangert er die 
angeblich außergewöhnliche Grausamkeit der beaufsichtigenden Vollzugsbeamten an.
465
 
In den letzten Jahren der transbaikalischen Katorga veränderte sich die Beschäfti­
gungslage noch einmal. Verantwortlich dafür war kein Umdenken der Katorga-Verwal­
tung oder eine Antwort auf die zuvor hinderlichen Organisationsprobleme, sondern pri­
mär der Ausbruch des Ersten Weltkriegs, der zu einem Mangel an Arbeitskräften führte. 
Waren zuvor, von wenigen Ausnahmen abgesehen, kriminelle Sträflinge in die Minen 
geschickt worden, traf es jetzt auch „Politische“.
466
  Das wirtschaftliche Argument ge­
462 Näheres dazu im Kap. 4.5 (S. 102).
463 Der Rapport  Zabellos an den Generalgouverneur Kijaško vom 30. November 1910  steht im Zu­
sammenhang   mit   dem   als   „Zerentujskaja   tragedija“   in   die   Geschichte   eingegangenen   Protest   in 
Gornyj Zerentuj, in dessen Verlauf der Sozialrevolutionär Egor Sazonov, der Attentäter Pleves, ums 
Leben kam; abgedruckt bei F
OMIN
 Katorga, S. 32f. Vgl. zu Čemodanov dessen Erinnerungen (Č
EMO
­
DANOV
 Katorga, bes. die Kapitel X bis XV zu Zerentuj). Zu Widerstand und Flucht vgl. die folgenden 
Ausführungen im Kap. 4.6 (S. 115).
464 Č
EMODANOV
 Katorga, S. 102.
465 T
IPUNKOV
 O tom, S. 130–132. Er bezeichnet die Katorga an der Amur-Bahn als eine Schule der Grau­
samkeit für die Mitarbeiter der Gefängnishauptverwaltung. Der Erinnerungsbericht, der den Memoi­
ren Čemodanovs angefügt ist, soll zweifellos einen Kontrapunkt zu den in ihrem Grundton gegenüber 
den Gefängnisbeamten verständlicherweise wohlwollend gehaltenen Schilderungen des ehemaligen 
Gefängnisdirektors und Bewachungskommandanten darstellen. In seiner Schärfe ist der Bericht Ti­
punkovs aber innerhalb des hier verwendeten Quellenkorpus unübertroffen, was für die Einordnung 
dessen, was er schildert, nicht unerheblich ist. Die Literatur dazu ist widersprüchlich. Während M
ARKS
 
Road, S. 181–184, bes. 184, bemerkt, es habe beim Eisenbahnbau weniger Kranke als in den Berg­
werken gegeben, schreibt  S
TOLBERG
  Raumerschließungsprozesse,  S. 322, von „katastrophalen“ hy­
gienischen Verhältnissen und Seuchen.
466 Vgl. etwa G
UBEL

MAN
 Šamanka, S. 180: „Bis zum Jahr 1914 wurden keine Politischen nach Šamanka 
geschickt; nur eine sehr kleine Ausnahme wurde für Aufständische gemacht, die bereits in Troick und 
anderen Minen gewesen waren. Erst der Mangel an Arbeitskräften 1914, nach der Kriegserklärung, 
zwang die Administration, diese Frage zu überprüfen.“ Auch hätten zunehmend gebildete Leute in 
den Bergwerken gefehlt. Die Feststellung Ščerbakovs (Š
ČERBAKOV
 Iz istorii, S. 82), nur Soldaten und 
Matrosen seien in die Minen geschickt worden, steht zu den zur Verfügung stehenden Quellen im Wi­
derspruch.
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