OSTEUROPA-INSTITUT MÜNCHEN
Mitteilung Nr. 56
ten getrennt blieben, selbst wenn sie zum Zusammenleben auf engem Raum gezwungen
waren. Freundschaften waren, wie Jakubovič seinem Genossen gleich zu Anfang zu be
denken gab, mit den Kriminellen nicht zu schließen.
486
Zu sehr unterschieden sich die
Wertevorstellungen voneinander. Was Feliks Kon schon auf dem Weg in die Katorga
aufgefallen war, nämlich die devote Erwartungshaltung der Kriminellen,
487
erlebten die
politischen Sträflinge in Akatuj zu Beginn des neunziger Jahre ähnlich, wenn die vier
schrötigen Genossen sie zwar mit „Sie“ ansprachen und eine gewisse Distanz und Ach
tung signalisierten, aber gleichzeitig hemmungslos und selbstverständlich von ihnen
profitierten.
488
Die Unberechenbarkeit der Beziehungen illustrieren nicht nur die literarisierten, aber
auf realen Begebenheiten beruhenden Schilderungen Jakubovičs, sondern auch die Er
innerungen Frejfel’ds und Orlovs.
489
„Wir lebten auf einem Vulkan“, schreibt Frejfel’d,
und diesen unruhigen Untergrund machte die heikle Position der „Politischen“ zwischen
der Gefängnisadministration und den
ugolovnye aus.
490
An Marginalien oder an für die
„Politischen“ völlig unverständlichen Vorhaltungen entzündeten sich Konflikte, obwohl
sich Jakubovič als
starosta der politischen Gefangenen um den Ausgleich sehr bemühte
und großzügig zeigte. Gerade die Großzügigkeit barg aber, wie bereits bei den Ausfüh
rungen zum Essen in Akatuj dargestellt, die Gefahr der Auseinandersetzung, ebenso das
Ansehen, das Jakubovič unter vielen Häftlingen genoss, und der Versuch der politischen
Häftlinge, Ordnung im Gefängnis zu wahren. Der
starosta der Kriminellen, der sich in
seiner Stellung dadurch angefochten fühlte und Jakubovič hasste, versuchte seine Unter
gebenen gegen die „Politischen“ aufzuhetzen und diese als Denunzianten anzu
schwärzen; ein mysteriöser Vergiftungsversuch traf,
vermutlich, die falschen.
491
Die Ver
setzung des Aufrührers in ein anderes Katorga-Gefängnis beruhigte die Lage, so dass
Orlov zuletzt sogar ausnehmend positiv festhält:
„Bald danach, besonders nach dem Weggang Judincevs aus dem Gefängnis, begannen
sich unsere Beziehungen mit den Kriminellen zu verbessern und ließen zum Ende un
seres Aufenthalts in Akatuj nichts zu wünschen übrig.“
492
Vor dem Hintergrund dieser Auseinandersetzungen, in deren Verlauf die Administration
zuweilen eine eher zwiespältige Rolle spielte – sie versuchte immer wieder, die Span
nungen für ihre Ziele zu nutzen
493
–, erhielt die Verpflichtung zur Arbeit im Bergwerk
eine heilige Überzeugung, die er durch langjährige bittere Erfahrung gewonnen hatte und nicht wäh
rend einiger Monate.“
486 M
ELSCHIN
Im Lande 2, S. 62.
487 Vgl. die Ausführungen am Ende von Kap. 3.2.4 (S. 54) mit Fußnote 257.
488 Vgl. M
ELSCHIN
Im Lande 2, S. 136–138, und F
REJFEL
’
D
Iz prošlogo (okončanie), S. 93.
489 Der Vergleich der Erinnerungsberichte Frejfel’ds, Orlovs und Čujkos mit den Bänden Jakubovičs
zeigt, dass den Schilderungen gemeinsame Erlebnisse zugrunde liegen, die, unterschiedlich gewichtet,
bei allen vier ehemaligen Häftlingen vorkommen.
490 F
REJFEL
’
D
Iz prošlogo (okončanie), S. 92.
491 F
REJFEL
’
D
Iz prošlogo (okončanie), S. 93 und 95–97, sowie O
RLOV
Ob Akatue, S. 113. Es ist anzuneh
men, dass der Vergiftungsversuch Jakubovič und Frejfel’d galt, zufällig aber zwei kriminelle Mithäft
linge traf.
492 O
RLOV
Ob Akatue, S. 113. Judincev war der erwähnte aufrührerische
starosta der kriminellen Häft
linge.
493 F
REJFEL
’
D
Iz prošlogo (okončanie), S. 92.
98
4.4. Die Katorga-Gesellschaft: „Politische“ und Kriminelle
jene andere, zentrale Bedeutung, die Čujko herausstreicht: Sie ermöglichte den Aus
bruch aus der stickigen Nähe zu der anstrengenden und oft unverständlichen Welt der
Kriminellen.
494
Das prekäre Nebeneinander politischer und krimineller Häftlinge, wie es in Akatuj
während der neunziger Jahre gelebt wurde, war geradezu harmonisch im Vergleich mit
den Zuständen, die in transbaikalischen Katorga-Gefängnissen nach der Revolution von
1905 herrschten. Die massive Zunahme der Zahl der Sträflinge schuf generell eine ange
spannte Situation in den Gefängnissen, weil der Platz immer knapper wurde; gleichzei
tig waren sehr viele der Katorga-Häftlinge ehemalige Militärangehörige oder Arbeiter,
die einen harten Umgang gewohnt waren und im Zuge der revolutionären Wirren diesen
auch ausgelebt hatten.
495
Das führte zu einer Umschichtung und Verschärfung innerhalb
der Katorga-Gesellschaft mit Folgen auch für das Verhältnis von „Politischen“ und Kri
minellen. Letztere wurden, nicht anders als in Akatuj zu Jakubovičs, Orlovs und Frej
fel’ds Zeit, von den sogenannten
ivany dominiert, der skrupellosen, terrorisierenden
„Elite“ der
ugolovnye, die, von der Gefängnisadministration oftmals geduldet, zentrale
Aufgaben wie die Küche unter ihrer Kontrolle hatten und den übrigen Häftlingen den
Alltag diktieren wollten.
496
Als die Administration im Katorga-Zentralgefängnis von
Aleksandrovsk bei Irkutsk das Häftlingskollektiv der „Politischen“ 1909 auflöste und
diese auf die Zellen der Kriminellen verteilte, gerieten die politischen Sträflinge und die
ivany rasch aneinander. Allein schon das bloß durch restriktiv erlaubte Hofgänge (nicht
aber durch eine Beschäftigung) aufgelockerte ständige Zusammensein mit den lärmen
den, rücksichtslosen Verbrechern war für die „Politischen“ eine Qual,
497
wie Krivorukov
schildert:
„Das Rasseln und der Klang der Ketten erzeugte eine solche Melodie, die, indem sie die
menschlichen Gefühle völlig abstumpfte, gleichzeitig unerträgliche Kopfschmerzen her
vorrief. Unvorstellbarer Lärm, Schlägereien, schrankenloses Kartenspiel und immenses
Geschimpfe spielten die Rolle einzelner Instrumente in dieser wahrhaft höllischen Sym
phonie, so dass unter diesem unmenschlichen Zustand keiner eine Möglichkeit sah, auch
nur irgendwie zu existieren.“
498
Die Versuche der politischen Zellengenossen, für ein Mindestmaß an Ordnung und Sau
berkeit und für festgesetzte Stunden der Ruhe zu sorgen, scheiterten nicht eigentlich an
der Masse der Kriminellen, sondern an deren Anführern, die sich vom Anspruch der
„Politischen“ auf Durchsetzung von Regeln herausgefordert fühlten. Zuletzt konnte nur
dank dem – lange hinausgezögerten – Eingreifen der Gefängnisverwaltung eine blutige
Messerstecherei verhindert werden, nachdem sich zuerst die
ivany und daraufhin auch
die politischen Häftlinge mit Messern bewaffnet hatten. Der Konflikt beruhigte sich
erst, als die „Politischen“ wieder in einer getrennten Kammer untergebracht wurden.
499
494 Vgl. das Zitat aus Č
UJKO
God, S. 112, wiedergegeben im Abschnitt 4.3.2 (S. 89).
Vgl. auch zusam
menfassend M
OŠKINA
Katorga, S. 30f.
495 Vgl.
den Hinweis in Fussnote 411.
496 K
ORMIL
’
CEV
Bor’ba, S. 130f., und K
RIVORUKOV
Bor’ba, S. 89. Ausführungen zu den
ivany auch im Kap.
3.2.4 (S. 54) mit Fußnote 253
über die Katorga-Gesellschaft auf dem Weg nach Osten.
497 K
RIVORUKOV
Bor’ba, S. 89 und 91.
498 K
RIVORUKOV
Bor’ba, S. 90.
499 K
RIVORUKOV
Bor’ba, S. 92f. und 95.
99