OSTEUROPA-INSTITUT MÜNCHEN
Mitteilung Nr. 56
sich Informationen zwischen den Gefängnissen oft sehr schnell – und sehr weit.
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Als es
in Zerentuj unter dem harten Regime des Gefängnisdirektors Vysockij 1910 zu einer
Protestwelle kam, die im Selbstmord des Pleve-Attentäters Sazonov gipfelte, zirkulierte
die Nachricht alsbald in St. Petersburg und wurde von dort, dargestellt als Beispiel für
die Grausamkeit des zarischen Strafsystems, in die Welt hinaus getragen.
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Bereits die
bevorstehende Amtsübernahme Vysockijs in Zerentuj war als Gerücht aus dem Gefäng
nis gekommen, noch ehe Čemodanov, der interimistische Vorsteher, von seinem Vorge
setzten davon unterrichtet worden war.
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Möglich war dies, weil die „Politischen“ nicht
nur mit anderen Gefängnissen in Kontakt standen, sondern auch mit ihren Parteileitun
gen und Duma-Fraktionen an der Neva korrespondierten.
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Dabei ergaben sich zuweilen
auch kuriose Situationen, etwa dann, wenn die Katorga-Häftlinge im Gegensatz zu loka
len Parteiorganisationen über die einschlägige ausländische Literatur verfügten und die
se, zusammen mit selbstverfassten politischen Pamphleten, den Parteigenossen in der
Freiheit zukommen ließen.
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Mit der Bevölkerung, die in den Dörfern und Städten in der Nähe der Katorga-Ge
fängnisse siedelte, standen die Häftlinge in der Regel nicht in Kontakt. Ausnahmen gab
es aber auch hier – etwa die Theatervorstellungen in Zerentuj während des Krieges, von
denen bereits die Rede war; wie Michlin berichtet, endeten die Aufführungen im Tanz
der „Schauspieler“
mit den Zuschauern,
so dass sich katoržane und Dorfbewohner buch
stäblich in den Armen lagen.
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Eine wichtige Schnittstelle war das „Freie Kommando“,
wo jene Häftlinge in kleinen eigenen Hütten oder als Untermieter bei Bauernfamilien
wohnten, die nach Ablauf eines Drittels ihrer Straffrist aus dem Gefängnis entlassen
worden waren, aber noch dem Gefängnisadministration unterstanden,
bevor sie dann zur
Ansiedlung in ein entfernteres Gebiet geschickt wurden. Den Entfaltungsmöglichkeiten,
die das freiere Leben bot, stand die Schwierigkeit gegenüber, für sich selbst sorgen zu
müssen.
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Einzelne entwickelten aber bemerkenswerte Eigeninitiative. So richteten Ro
591 Auch über kurze Distanz konnte es aber zu entscheidenden Verzögerungen kommen. Das politische
Gefängnis an der Kara stand mit dem „Freien Kommando“ in Kontakt und dadurch indirekt auch mit
den weiblichen politischen Sträflingen. Eine Nachricht über Vorgänge im Frauengefängnis 1889, die
zur sogenannten „Tragödie von Kara“ führten, erreichte die Männer aber erst vier Wochen später, vgl.
K
ON
Pod znamenem, S. 297.
592 Davon berichten sowohl Č
EMODANOV
Katorga, S. 95, als auch P
LESKOV
V gody, S. 150. Letzterer er
klärt, nur dank dem „Freien Kommando“ hätten Russland und Europa davon Kenntnis erhalten.
593 Č
EMODANOV
Katorga, S. 80.
594 P
LESKOV
V gody, S. 149, und P
LESKOV
„Vol’nyj universitet“, S. 173. Die Parteizentralen schickten
manchmal auch Geld, vgl. K
RAMAROV
Kommuny, S. 138.
595 P
LESKOV
„Vol’nyj universitet“, S. 173.
596 M
ICHLIN
Teatr, S. 98 mit Anmerkung 2.
597 Vgl. K
ACZYNSKA
Gefängnis, S. 96f., sowie für die neunziger Jahre K
OVAL
’
SKAJA
V Gornom Zerentue, S.
154–160, und I
VANOVSKAJA
Pis’ma, S. 144–150; für Mal’cevskaja und Akatuj R
ADZILOVSKAJA
Koman
da, und O
RESTOVA
Komanda, sowie ein Brief vom 9. November 1909 einer mit „R.“ zeichnenden „Po
litischen“ über die ersten Erfahrungen im „Freien Kommando“; der Brief ist von Vera Figner ediert
worden, vgl. F
IGNER
Pis’ma, S. 219–221. Das „Freie Kommando“ wurde gleichwohl zumeist als Privi
leg wahrgenommen. Die Möglichkeit stand den „Politischen“ erst durch die Gleichstellung mit den
Kriminellen 1890 rechtmäßig zu (wenngleich auch Mitte der achtziger Jahre bereits ein „Freies Kom
mando“ an der Kara bestand (K
ENNAN
Siberia II, S. 187–195), und war, neben dem Negativum des ge
meinsamen Alltags mit den Verbrechern, eines der „Zuckerbrote“ dieser Neuorganisation; vgl. die
entsprechende Dokumentation bei F
OMIN
Katorga, S. 20. 1880/81, im Zuge der Verschärfungen der
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4.5. Bildungsaktivitäten und der Kontakt zur Außenwelt
mual’d Maleckij und Vladimir Pleskov am Ende des ersten Jahrzehnts des 20. Jahr
hunderts im „Freien Kommando“ von Zerentuj eine Schule für die Kinder der Gefäng
nisangestellten und des Ortes ein; auch sie war ein Ort der Kommunikation, wo Eltern,
Schüler und die außerhalb des Gefängnisses lebenden Häftlinge sich austauschen konn
ten.
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Die Schule war verbunden mit einem Heim für Kinder der Häftlinge,
das in einem
stattlichen Gebäude untergebracht war. Gegründet einst von einer Petersburgerin mit hu
manitärer Ader, war es aus der Hauptstadt lange unterstützt worden und musste später
um seine Existenz kämpfen. Čemodanov nennt es in seinen Memoiren eine „leuchtende
Oase“.
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Pauschal für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts von einem „Regime vollständiger
Isolierung“ der politischen Häftlinge von der Gesellschaft zu sprechen, wie dies Moški
na tut, ist trotz den Verschärfungen nach 1880 unhaltbar.
600
Dasselbe gilt für die letzte
Periode der Katorga nach der Jahrhundertwende, obwohl immer wieder versucht wurde,
die Freiräume einzuschränken. Diese blieben aber auch in Bezug auf die Möglichkeiten,
mit der Außenwelt in Verbindung zu treten, bestehen; ihre Dimension korrelierte frei
lich mit den Haftbedingungen. Die „Politischen“ hatten, übers Ganze gesehen, regelmä
ßigen Zugang zu persönlichen und allgemeinen Nachrichten, und die illegalen Kanäle
funktionierten dank zahlreichen Intermediären bis in die Parteizentralen – in beide Rich
tungen. Die Drähte zur Außenwelt waren ziemlich dicht. Die Welt der Katorga lag ab
seits, aber nicht auf einem anderen Planeten.
4.6. Provokation, Widerstand, Flucht: Die Häftlinge und die
Gefängnisadministration
Die Welt der Katorga war eine Welt der Demütigungen und Schikanen. Diese waren ei
ner Strafform inhärent, die einem vergangenen Disziplinierungsverständnis entstammte
und erst spät von den Marter- und Brandmarkungsvorgängen geschieden worden war.
Einzelne Teile davon hatten überlebt: die Rasur der einen Kopfhälfte, das Anschmieden
eiserner Fesseln an den Füßen und bisweilen auch den Händen, die Prügelstrafe.
601
Mit
verbalen Schikanen, Einschränkungen der Freiräume und drohenden demütigenden Stra
fen versuchten die Verantwortlichen des Verbannungssystems – vom Minister in Peters
burg über den zuständigen Generalgouverneur bis zu den Gefängnisdirektoren und Auf
sehern – die Macht zu demonstrieren, mit der sie die Ordnung in den Katorga-Gefäng
nissen aufrechterhalten wollten. Oft zeigte sich gerade darin ihre Ohnmacht. Die Demü
tigungen unterschiedlichen Grades wurden von den Häftlingen als Provokation verstan
Haftbedingungen für politische Gefangene, waren Sträflinge, die durch den damaligen Kommandan
ten Kononovič eigenmächtig ins „Freie Kommando“ geschickt worden waren, ins Gefängnis zurück
geholt worden. Vgl. K
ENNAN
Siberia II, S. 207–210.
598 P
LESKOV
V gody, S. 150. Die Schule wurde vom Gefängnisdirektor Vysockij geschlossen und später
von Pleskov in der Ansiedlung am Baikalsee fortgeführt. Ausführliche Würdigung bei Č
EMODANOV
Katorga, S. 68.
599 Č
EMODANOV
Katorga, S. 67f. Erwähnt auch bei F
REJFEL
’
D
Iz prošlogo (okončanie), S. 105.
600 M
OŠKINA
Katorga, S. 48.
601 Vgl. S
CHRADER
Languages, S. 111, zur Körperstrafe im Verbannungssystem und D
ALY
Punishment, S.
355, zum Verhältnis von Rückständigkeit und Verbannungssystem im Russischen Reich.
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