OSTEUROPA-INSTITUT MÜNCHEN
Mitteilung Nr. 56
sie jene „Politischen“, die Aussicht auf Entlassung hatten, mit dem nötigen Rüstzeug für
die Arbeit in der revolutionären Bewegung versahen. Pleskov erklärt dazu programma
tisch:
„Auch unter solchen Bedingungen klammerte sich der revolutionäre Geist an die kleinste
Möglichkeit, die kulturpolitische Arbeit in die Massen zu tragen. Der Revolutionär ver
stand auch in der Katorga, dass er, auch wenn er in zeitweilige Gefangenschaft geraten
ist, als Soldat der Revolution immer und überall verpflichtet ist, mit der Waffe zu kämp
fen, die ihm den Sieg gibt: mit Lesen und Schreiben, mit Wissen, mit dem Verstand, die
Wirklichkeit vom Klassenstandpunkt, vom Standpunkt des revolutionären Marxismus
aus, zu analysieren.“
548
Stolz vermerkt Pleskov denn auch, dass ein Arbeiter nach der Entlassung aus der Kat
orga in der Ansiedlung dank dem erreichten Bildungsstand alle drei Bände des „Kapi
tals“ gelesen habe.
549
Umgekehrt würdigt Kormil’cev dankbar
den Unterricht, der
ihn auf
den weiteren revolutionären Kampf vorbereitet habe.
550
Im Zusammenhang mit dem po
litischen Ziel äußert sich Pleskov polemisch über die
učeba im Frauen-Katorga-Gefäng
nis Mal’cevskaja: „Im Gegensatz zu unseren Nachbarn aus Mal’cevka trug unser Unter
richt einen offensiven, kämpferischen Charakter, der feste Ermunterung war.“
551
Die Bil
dungstätigkeit habe keinen „philanthropischen Ansatz“ gepflegt, den er implizit als her
ablassend bezeichnet, sondern habe, mit dem Ziel des Kampfes für eine neue Revoluti
on, alle zu einer Familie vereint.
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Wie die zitierten Schilderungen nahelegen, ging es jedoch den Frauen, wenn auch
vielleicht weniger dogmatisch, letztlich um nichts anderes den Männern. Kachovskaja
schreibt: „Es war nötig, sich zu beeilen, mehr zu erfahren, um besser, richtiger zu leben
und in der Freiheit zu kämpfen. Das traf insbesondere auf jene mit kurzen Strafen
(ma
losročnye) zu.“
553
Auch Pirogova äußert sich so, wenn sie schreibt, in den letzten Jahren
der Katorga habe sich der Sinn des Lernens und Lehrens vom unmittelbaren Ziel der
Fortsetzung des Kampfes nach der Freilassung verschoben zu einem verstärkt individu
ell ausgerichteten Lernen, weil nur noch die Häftlinge mit Langzeit- oder lebenslangen
Strafen im Gefängnis gesessen hätten.
554
Familiär dürfte es, den Berichten nach zu urtei
len, auch in Mal’cevskaja zu und her gegangen sein – wenn auch weniger verbissen.
Eine Portion Philanthropie mag den Bildungsaktivitäten in Akatuj in den neunziger
Jahren innegewohnt haben. Während es
Pleskov stets verwehrt blieb, auch die Kriminel
len in seine kulturelle Tätigkeit einzubeziehen,
555
richteten sich in Akatuj die Anstren
gungen explizit an diese, die mit den „Politischen“ das Leben teilten. Der Impetus war
548 P
LESKOV
„Vol’nyj universitet“, S. 176. Der Text ist – wie alle Erinnerungsberichte aus dem Kreis der
Gesellschaft der ehemaligen politischen Zwangsarbeiter und Verbannten – vor dem Hintergrund sei
ner Entstehungszeit Ende der zwanziger Jahre zu sehen. Natürlich kann man auch argwöhnen, Ples
kov sei einfach daran gelegen, Zerentuj in einem bezüglich Propagandaarbeit besonders guten Licht
darzustellen. Der revolutionäre Geist dürfte aber in Zerentuj schon zum Tragen gekommen sein.
549 P
LESKOV
„Vol’nyj universitet“, S. 171.
550 K
ORMIL
’
CEV
Bor’ba, S. 134. Hier ist explizit derselbe Vorbehalt angebracht wie in Fußnote 548.
551 P
LESKOV
V gody, S. 148.
552 P
LESKOV
V gody, S. 148.
553 K
ACHOVSKAJA
Iz vospominanij, S. 81.
554 P
IROGOVA
Na ženskoj katorge, S. 167.
555 P
LESKOV
V gody, S. 143.
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4.5. Bildungsaktivitäten und der Kontakt zur Außenwelt
hier noch kein primär politischer, sondern ein sozialer und nahm, in seinem Anspruch,
die Alphabetisierungsprogramme der Bolschewiki nach der Revolution vorweg. Die
Idee stammte von Jakubovič, der die
ugolovnye mit Literatur und mit Lesen und Schrei
ben vertraut machen wollte und die Stütze dieser „Schule“ war.
556
4.5.3. Das Theater von Zerentuj
Der initiative Geist und Bildungseifer beschränkte sich nicht allein auf das Vermitteln
und Gewinnen von Wissen. Im Rahmen des phasenweise lockeren Gefängnisregimes
vor 1910 und während des Ersten Weltkriegs wurden aus dem Zustand der Beschäfti
gungslosigkeit heraus weitere kulturelle Aktivitäten geboren. Besonders innovativ war
dabei wiederum das Gefängnis von Gornyj Zerentuj, wie die Quellen nahelegen. Der
Chor, den die „Politischen“ bildeten, beeindruckte den Gefängnisdirektor so sehr, dass
er einmal dabei ertappt wurde, wie er vor der Zellentür dem Gesang lauschte. Geschick
te Handwerker bauten sich und anderen Balalaiken und Mandolinen und formten ein
kleines Orchester.
557
Auch in Kazakovo gab es während des Krieges ein Streichorches
ter, das auf großen Anklang stieß, auch bei der örtlichen freien Bevölkerung.
558
In besonderem Masse verdient aber das Theaterspiel Beachtung.
559
Noch stärker als
das Singen und Musizieren vermochte es zwischen verschiedenen Ebenen vermittelnd
zu wirken: unter den politischen Sträflingen, weil sie sich durch die gemeinsame Her
ausforderung der Improvisation und durch das Rollenspiel näherkamen; zwischen ihnen
und den Kriminellen, die über den aus Erlösen finanzierten Kinematographen dankbar
waren;
560
zwischen ihnen und der Bevölkerung, deren Kulturleben die Häftlinge berei
cherten und die aus einer Entfernung von bis zu 200
verst für die Aufführungen anreis
ten;
561
und besonders zwischen der Gefängnisadministration und den „Politischen“, weil
es den Freiraum für die kulturelle Entfaltung im Dialog mit der
Obrigkeit schuf und weil
es gute Beziehungen zwischen den Sträflingen und den Aufsehern bzw. militärischen
Begleittruppen unter Beweis stellte.
562
Das Theaterspiel passt deshalb nicht in die Kate
gorie des hehren Kampfes mit der Verwaltung, auch wenn es nur unter dem zeitweise
gelockerten Regime möglich war und sich der Erfolg bei der Administration – bis hin
zum Generalgouverneur Kijaško – schließlich erst im dritten Anlauf einstellte.
563
Das be
556 F
REJFEL
’
D
Iz prošlogo (okončanie), S. 97, und Č
UJKO
God, S. 113. Jakubovič schildert seine Unter
richtsversuche ausführlich in seinem literarisierten Rückblick, vgl. bes. M
ELSCHIN
Im Lande 1, S. 166–
240, und M
ELSCHIN
Im Lande 2, S. 251–255.
557 P
LESKOV
„Vol’nyj universitet“, S. 173–175.
558 E
ROCHOV
Priiski, S. 209.
559 Vgl. dazu zusammenfassend die Ausführungen bei T
AGAROV
Učeba, S. 82–84; vor allem aber sehr
ausführlich (für Gornyj Zerentuj) M
ICHLIN
Teatr, S. 90–99, und der kurze Hinweis bei P
LESKOV
„Vol’nyj universitet“, S. 175.
560 M
ICHLIN
Teatr, S. 96.
561 M
ICHLIN
Teatr, S. 94. 1
verst entsprach 1,06 Kilometern.
562 Vgl. M
ICHLIN
Teatr, S. 98 mit Anmerkung 3; die Soldaten gewährten den Häftlingen demgemäß freie
Bewegung, selbstverständlich unter scharfer Bewachung.
563 T
AGAROV
Učeba, S. 82, ordnet daher auch das Theaterspiel dem revolutionären Kampf zu. M
ICHLIN
Teatr, S. 90–93, schildert die Entstehungsgeschichte mit einem ersten, von der lokalen Verwaltung
abgebrochenen und einem zweiten abgelehnten Versuch. Die Administration fürchtete vor allem eine
nächtliche Flucht der „Schauspieler“, weil sich die Bühne nicht im Gefängnis selbst befand, sondern
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