OSTEUROPA-INSTITUT MÜNCHEN
Mitteilung Nr. 56
Aus der Offensive heraus operierte demgegenüber eine Gruppe von politischen Häftlin
gen, die 1907 von Akatuj nach Gornyj Zerentuj verlegt wurde, wo sich damals das Zen
trum der
ivany in der Nerčinsker Katorga befand.
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Mit Rückendeckung des damaligen
Gefängnisdirektors, der ihnen volle Bewegungsfreiheit gab, stutzten die „Politischen“
sukzessive den Einfluss der aggressiven Kriminellen zurück; sie übernahmen, mit Mes
sern bewaffnet, auch die Küche, die Bastion der
ivany, und marginalisierten diese damit
nachhaltig.
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Eine regelrechte Abrechnung hatten, nach anfänglich unproblematischem
Zusammenleben und -arbeiten, neu angekommene Kriminelle in Šamanka 1915 im
Sinn; sie wollten sich an den vier politischen Sträflingen für ein Blutbad in einem an
dern Minen-Lager rächen, obwohl diese mit dem Ereignis nichts zu tun gehabt hatten.
Der Anschlag schlug fehl, die Attentäter wurden selbst schwer verletzt. Gubel’man, der
diese
Szene schildert, hebt allerdings gleichzeitig
das hohe Ansehen hervor, das die „Po
litischen“ unter den Kriminellen genossen hätten.
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Die bei Krivorukov und Kormil’cev ausführlich geschilderten, handgreiflichen Aus
einandersetzungen zwischen den „Politischen“ und den
ivany als der Elite der Verbre
cher sind auch in ideologischer Hinsicht interessant. Beiden Autoren geht es in ihren Er
innerungsberichten darum, diese Verbrecher-Elite in den düstersten Farben zu malen
(was wohl auch nicht abwegig ist) und deutlich von der Masse der Kriminellen abzu
heben, die als unterdrückt, aber eigentlich verständig und lernwillig dargestellt wird.
Wenn Kormil’cev schreibt, „auf diese Weise wurde das
‚ivanstvo‘ von Zerentuj liqui
diert“, während die gewöhnlichen
ugolovnye für den Kampf gegen ihre Unterdrücker
geschult und von den „Politischen“ auch anderweitig unterrichtet worden seien,
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dann
klingt dies sehr nach Klassenkampf. Auch Gubel’man bedient sich letztlich dieser For
mel, wenn er, nicht nur bezogen auf Šamanka, festhält: „Nur der Terror der
‚ivany‘ gab
den Kriminellen nicht die Möglichkeit, mit ihnen zu brechen, und hielt sie in der Hörig
keit.“
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Die Gefahr, die von diesen skrupellos brutalen Gefangenen ausging, soll damit
nicht kleingeredet werden; aber zumindest in der Erinnerung wird der Existenzkampf zu
einem revolutionären, auch andere (nämlich die „unschuldigen“ Kriminellen) befreien
den Akt stilisiert. Und festzuhalten ist, dass es den „Politischen“ immerhin in allen zi
tierten Beispielen gelang, sich dem Würgegriff der Kriminellen-Elite zu entwinden.
4.4.2. Parallele Welten und Interaktion unter einem Dach
Die Zäsur von 1890 war nur eine relative. Das galt nicht bloß für das Arbeiten in der
Katorga, sondern auch für den Versuch der kompromisslosen Gleichstellung der poli
tischen Häftlinge mit den kriminellen.
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Oft ließen sich die „Politischen“ die Beschnei
dung ihrer traditionellen Sonderbehandlung durch das Gefängnispersonal – das Recht
500 K
ORMIL
’
CEV
Bor’ba, S. 131f.
501 K
ORMIL
’
CEV
Bor’ba, S. 133.
502 G
UBEL
’
MAN
Šamanka, S. 186–188.
503 K
ORMIL
’
CEV
Bor’ba, S. 133. Der Begriff
„ivanstvo“ ist nicht übersetzbar; er bezeichnet das Netzwerk
der
ivany und damit ein Kollektivum.
504 G
UBEL
’
MAN
Šamanka, S. 188.
505 F
OMIN
Katorga, S. 24, schreibt dazu: „Aber was leicht
auf ein Blatt zu schreiben war, war sehr schwie
rig, ins Leben einzuführen.“
100
4.4. Die Katorga-Gesellschaft: „Politische“ und Kriminelle
auf eigene Kleidung, auf eigene Kammern, auf das Siezen – nicht gefallen und protes
tierten dagegen; immer wieder gerieten, wie geschildert, die beiden Sträflingsgruppen
aneinander und zwangen die Administration zu deren Trennung.
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Das Konzept von
1890 hatte zwar die strikte Isolierung der „Politischen“ von den Kriminellen für alle
Zeiten aufgehoben; aber das bedeutete nicht, dass fortan in allen Gefängnissen Zustände
herrschten wie im „Mustergefängnis“ von Akatuj, wo das
neue Regime zuerst umgesetzt
wurde. Die beiden Lebenswelten blieben verschiedene Welten, auch weil in der Katorga
nach 1905 nicht selten wieder getrennte Zellen gebildet wurden, wenngleich stets unter
demselben Gefängnisdach. Die Separation war vor allem eine Folge der „Republikani
sierung“ in den Gefängnissen 1905/06, als im Zuge der revolutionären Umtriebe und des
großen Zustroms neuer Häftlinge nicht die Administration, sondern die Häftlinge hinter
den Mauern das Sagen hatten.
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So sah es auch Pavel Vasil’ev, der erklärt, in den Ner
činsker Katorga-Gefängnissen habe sich noch 1909 als Überbleibsel vergangener frei
heitlicher Tage die Trennung der politischen von den kriminellen Gefangenen gehal
ten.
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Unter diesen Voraussetzungen war das Verhältnis von Nähe und Distanz kein prekä
rer Lebenszustand für die „Politischen“. Indem die Welten parallel existierten und die
Interaktion sich in Grenzen hielt, glichen die Beziehungen zwischen den beiden Grup
pen eher jenen der Reise nach Osten: Faszination einerseits und gegenseitige Achtung
anderseits machten sie aus und ließen Irina Kachovskaja festhalten, ohne das unbedingte
Verbot des Austauschs könnten beide Gruppen einander das Leben bereichern.
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So
blieb es beim Aufsetzen von Briefen und Bittschriften durch die „Politischen“ auf
Wunsch der Kriminellen.
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In Mal’cevskaja klafften die beiden Welten besonders stark
auseinander – vom Vorsatz der Gleichbehandlung war hier wenig geblieben. In den Zel
len der weiblichen Kriminellen herrschte Platznot; bis zu 40 Gefangene teilten sich
einen Raum. Statt in Betten wie die „Politischen“ schliefen sie auf gewöhnlichen Prit
schen
(nary). Sie gingen, im Unterschied zu den politischen Häftlingen, einer Arbeit
nach – nähten Hemden, kochten für das ganze Gefängnis oder waren im Garten tätig. In
ihren Augen waren die „Politischen“ die Herrinnen, ungeachtet ihrer sozialen Her
kunft,
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und die materiellen und lebensweltlichen Unterschiede im gleichen Gefängnis
dürften sie darin bestätigt haben. „Sie stellten eine gänzlich gesonderte Welt dar, und ihr
Leben gestaltete sich völlig anders als unseres“, heißt es bei Fanni Radzilovskaja und
Lidija Orestova.
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Viele der weiblichen Kriminellen waren auf dem Transport in die
Katorga zum Freiwild der männlichen Verbrecher und der Begleitsoldaten geworden;
als Folge davon lebten auch einige Kinder unter ihnen, deren Schicksal die beiden Auto
rinnen bedauern. „Diese Kinder wurden wie Pilze geboren, und häufig wussten die Müt
506 Vgl. auch die folgenden Ausführungen im Kap. 4.6 (S. 115).
507 F
OMIN
Katorga, S. 25.
508 V
ASIL
’
EV
Promysly, S. 193.
509 K
ACHOVSKAJA
Iz vospominanij, S. 87. Wie R
ADZILOVSKAJA
/O
RESTOVA
Katorga, S. 41, jedoch berichten,
gab es für kurze Zeit gemeinsame Lern- und Unterrichtsstunden.
510 R
ADZILOVSKAJA
/O
RESTOVA
Katorga, S. 42, und K
ACHOVSKAJA
Iz vospominanij, S. 87.
511 K
ACHOVSKAJA
Iz vospominanij, S. 87.
512 R
ADZILOVSKAJA
/O
RESTOVA
Katorga, S. 40.
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