Osteuropa-institut



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OSTEUROPA-INSTITUT MÜNCHEN  Mitteilung Nr. 56
wann an Bedeutung. So stand etwa die Mine von Šamanka zwar auch in Kabinettsbe­
sitz, sie wurde aber von einem Pächter betrieben, der auf die Wirtschaftlichkeit der An­
lage angewiesen war.
467
 Verlangt wurde der volle Einsatz, um die erforderlichen tägli­
chen Normen erfüllen zu können. Dafür begann der Tag noch vor Sonnenaufgang um 3 
Uhr 30 und endete um 19 Uhr oder, im Winter, auch nach Sonnenuntergang vor 16 Uhr. 
Ein Frühstück mit Tee gab es um 7 Uhr morgens; zwischen 12 und 14 Uhr ruhte die Ar­
beit in der Regel, und das Mittagessen wurde mitunter unter freiem Himmel auf der 
Wiese eingenommen.
468
 Die katoržane waren in Arbeitskollektive (arteli) eingeteilt und 
hatten je nach Betrieb unterschiedliche Aufgaben zu bewältigen. In Šamanka mussten 
Gubel’man und seine vier Arbeitsgenossen im  artel’ drei Kubikmeter Torf oder zwei­
einhalb Kubikmeter Sand pro Tag schaufeln und mit einem Pferdewagen abführen; für 
einen Kubikmeter musste dieser rund 25 Fahrten unternehmen.
469
 In Nižnjaja Borzja, wo 
Ivan Starodubcev 1915 eingesetzt war, wurde Tagebau in teilweise gefrorenem Boden 
betrieben;   das   Herausheben   der   gefrorenen   Erde   bezeichnet   er   als   „verhältnismäßig 
leichte“ Arbeit, wenngleich die Aufgabe den Häftlingen wegen der körperlichen Verfas­
sung nach den Monaten des Nichtstuns doch einiges abverlangt habe.
470
  In Kazakovo 
scheint die Ausrüstung des Bergwerks bemerkenswert gut gewesen zu sein. Aleksandr 
Erochov berichtet von elektrischer Belüftung und von Hebemaschinen in Schächten mit 
einer Tiefe von 70 bis 80  sažen’.
471
  Wenngleich die Normen ziemlich groß bemessen 
waren und anfangs nur mit Überstunden bewältigt werden konnten, lösten sie auch eine 
Art Wettbewerb unter den Arbeitskollektiven aus; keine Gruppe wollte Verspätung oder 
Nichterfüllung auf sich sitzen lassen, und so spornten sie sich gegenseitig an, um mög­
lichst früh am Tag den Pflichtteil erledigt zu haben. Für die zusätzliche Arbeit gab es 
eine entsprechende Entschädigung.
472
 Insofern ließen sich die katoržane in die Zwangs­
arbeit willig einspannen. Wer die Norm nicht erfüllte, musste allerdings mit bemerkens­
werten Sanktionen rechnen, wie Erochov berichtet; denn in Kazakovo war die Verpfle­
gung an die Norm gebunden – wer zu wenig leistete, der erhielt eine geringere Ration: 
ein Prinzip, das in den sowjetischen Lagern, vielfach verfeinert, zum brutalen Alltag ge­
hörte.
473
 Interessant ist aber, dass die nächstschärfere Strafe in der Versetzung zurück ins 
Gefängnis bestand.
474
 Die Bedeutung der Beschäftigung war mithin eine gänzlich andere 
als in den Lagerwelten des 20. Jahrhunderts, in denen die Häftlinge Ruhe von der Arbeit 
suchten, weil diese oft schlicht zerstörerisch war. Wie sehr den Sträflingen daran gele­
gen war, zu den Privilegierten zu gehören, die in der Katorga einer Arbeit nachgehen 
konnten, zeigt auch das Beispiel Starodubcevs, der in Nižnjaja Borzja zuletzt als Koch 
arbeitete und sich erhoffte, dadurch aus der Masse der Zwangsarbeiter herauszustechen 
467 G
UBEL

MAN
 Šamanka, S. 181.
468 S
TARODUBCEV
 Na Nižnej Borze, S. 214f., G
UBEL

MAN
 Šamanka, S. 182, und V
ASIL

EV
 Promysly, S. 197 
und 199. Letzterer arbeitete im Winter 1909/10 in Novotroick, also noch einige Jahre vor Starodub­
cev, Gubel’man und Erochov. Schon damals wurde allerdings auf vergleichbare Art gearbeitet.
469 G
UBEL

MAN
 Šamanka, S. 182.
470 S
TARODUBCEV
 Na Nižnej Borze, S. 214.
471 E
ROCHOV
 Priiski, S. 210. 1 sažen’ entspricht 2,134 Metern (vgl. H
OFFMANN
 Einleitung, S. 204).
472 Vgl. G
UBEL

MAN
 Šamanka, S. 182, und S
TARODUBCEV
 Na Nižnej Borze, S. 214. 
473 E
ROCHOV
 Priiski, S. 210. Zur Verbindung von Norm und Essensration im Gulag vgl. A
PPLEBAUM
 Gulag, 
bes. S. 220–227.
474 E
ROCHOV
 Priiski, S. 210.
94


4.3. Arbeiten in der Katorga
und im Winter, zurück im Gefängnis, Arbeit in einer Werkstätte zu finden – was ihm 
auch gelang.
475
Die Essensrationen in den zarischen Minen-Lagern (und um solche handelte es sich, 
im Unterschied zu den herkömmlichen Katorga-Gefängnissen) werden in den Erinne­
rungsberichten   gewürdigt;   auch   das   ist   bemerkenswert.   Erochov   bekam   dreiviertel 
Pfund gebratenes Fleisch, eine großzügige Portion Brot, Gemüse und Butter. Starodub­
cevs Mittagessen bestand aus einer Kartoffelsuppe mit einem Pfund Fleisch pro Person, 
was bei guter Zubereitung sehr schmackhaft gewesen sein soll, ergänzt mit Brei (kaša)
den es, zum Tee, auch abends gab. Gubel’man spricht ebenfalls von besserem Essen, als 
es im Gefängnis geschöpft wurde; ein Pfund Fleisch, ein Pfund Weißbrot, zweieinhalb 
Pfund Schwarzbrot, kaša sowie Kartoffeln und Gemüse und an Sonntagen sogar Vodka. 
Allerdings reichte die Ration doch nie ganz, so dass die Häftlinge von Frauen aus den 
umliegenden Dörfern zusätzliche frische Lebensmittel aus dem erwirtschafteten Geld er­
warben.
476
 
Die harte Arbeit und der Einsatz wurden also mit einigermaßen zufriedenstellender 
Verpflegung belohnt. Allerdings gab es auch Betrug auf allen Ebenen; nicht nur Sträf­
linge versuchten, wertvolle Gesteinsbrocken oder Goldklumpen zu unterschlagen, auch 
Grubenaufseher und -ingenieure wurden verdächtigt.
477
 Die Organisation der Arbeit trug, 
bei allen Missständen und unerquicklichen Bedingungen, dennoch neue, auf mehr Effi­
zienz   ausgelegte   Züge,   die   der   Bedeutung   der   Katorga-Strafe   als   Verurteilung   zur 
Zwangsarbeit gerecht wurden. Allerdings unterstand bis zuletzt nur ein Bruchteil der 
Katorga-Häftlinge diesem Regime. Dessen Charakter jedoch deutet bereits eine andere, 
in der zu Ende gehenden Katorga-Welt noch unvorstellbare Dimension der Zwangs­
arbeit an.
4.4. Die Katorga-Gesellschaft: „Politische“ und Kriminelle
In der Welt der Katorga gab es viele unterschiedliche Welten. Jeder Strafvollzugsort, je­
de Gemeinschaftszelle im Gefängnis bildete einen eigenen kleinen Kosmos, einen eige­
nen, eng begrenzten  sozialen  Raum;  oft  waren  die  politischen  und  sozialen   Brüche 
mächtiger als gemeinsame Interessen. Die Welt der „Politischen“ und die Welt der Kri­
minellen blieb auch dann getrennt, wenn jede räumliche Barriere aufgehoben war. Zur 
Katorga-Gesellschaft gehören beide Häftlingskategorien gleichermaßen, weil beide auf 
ihre Art die Katorga prägten – die ugolovnye durch ihre überwältigende Überzahl und 
ihre eigene Lebenskultur, die „Politischen“ durch ihre straffe Ordnung, die Fortsetzung 
des politischen Kampfs und der Propaganda auch hinter den Gefängnismauern.
478
 Diese 
475 S
TARODUBCEV
 Na Nižnej Borze, S. 217.
476 E
ROCHOV
 Priiski, S. 210, S
TARODUBCEV
 Na Nižnej Borze, S. 214, und G
UBEL

MAN
 Šamanka, S. 184.
477 S
TARODUBCEV
 Na Nižnej Borze, S. 216, berichtet von Verdacht auf Goldhandel mit Harbin; vgl. auch 
G
UBEL

MAN
 Šamanka, S. 183.
478 Die „kriminelle“ Katorga stand in der Forschung, namentlich in der sowjetischen (und eine westliche 
gab es lange Zeit nur rudimentär), immer im Schatten der „politischen“. Grund dafür war nicht zuletzt 
auch die Quellenlage. Als einer der wenigen westlichen Forscher hat Alan Wood dazu Aufsätze publi­
ziert, vgl. W
OOD
 Crime; W
OOD
 Sex and Violence; W
OOD
 ‚Wild East‘. Auch Kaczynska bezieht die bei­
de Gruppen mit ein, vgl. ihr Kapitel zur Verbannung Krimineller (K
ACZYNSKA
 Gefängnis, S. 138–160) 
95


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