OSTEUROPA-INSTITUT MÜNCHEN
Mitteilung Nr. 56
weilig war es den Gefangenen in Kara gestattet, einen Gemüsegarten im Hof zwecks
Verbesserung der Gesundheitslage zu besorgen.
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Offiziell stand zu Beginn des 20. Jahrhunderts jedem nicht arbeitenden Häftling –
und das war die Mehrheit
371
– in der Nerčinsker Katorga eine klar definierte tägliche Ra
tion zu.
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Allerdings entsprach diese, nach den Berichten zu urteilen, mehr dem Regle
ment als der Wahrheit. In Mal’cevskaja war die Kost zumeist dürftig und oft knapp be
messen. In der Regel wurde mittags eine
balanda mit verfaultem Kohl und ein wenig
angefaultem Fleisch oder Kartoffeln geschöpft, zum Abendessen gab es wässrigen
Buchweizenbrei; mittwochs und freitags wurde Erbsen-, Fisch- oder Bohnensuppe ge
kocht.
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Weil die Küche dort von den
ugolovnye betrieben wurde, mussten die „Poli
tischen“ darauf achten, sich nicht nur buchstäblich mit Wasser abspeisen zu lassen. Das
Schwarzbrot verschmähten die Gefangenen zumeist, auch wenn sie noch hungrig waren,
und gaben es den Kriminellen weiter. Sie erhielten jedoch manchmal vom Gefängnisdi
rektor Weißmehl, um sich weißes Brot backen zu können.
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Die Beurteilung der Verpflegung war allerdings primär eine Frage des Standpunkts.
Während Fanni Radzilovskaja und Lidija Orestova das Essen als schlecht taxieren,
nennt es Irina Kachovskaja, die zur selben Zeit in Mal’cevskaja lebte, „erträglich“; die
Frauen seien jung und gesund gewesen, und mehr als die Qualität der Speisen habe die
Quantität eine Rolle gespielt – was darauf schließen lässt, dass es aus ihrer Sicht genü
gend zu essen gab. Die Kommune ergänzte den offiziellen Speiseplan zuweilen mit zu
sätzlichem Gemüse, Brei
oder mit Kartoffeln; Kranke erhielten auch Milch, Fleisch oder
Butter. Nach der Auflösung des Frauengefängnisses von Mal’cevskaja 1911 und der
Verlegung der „Politischen“ nach Akatuj, erwähnt Kachovskaja, hätten sie allerdings
Hunger gelitten.
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Der differenzierte Blick auf die Verpflegungssituation legt mithin ein widersprüchli
ches Bild offen. Wie aus den Berichten hervorgeht, war die Kost eher knapp denn reich
lich bemessen, und die Eintönigkeit der Speisen und vor allem das Fehlen von Frisch
produkten beeinträchtigten das Wohlbefinden stark. Kaczynska ortet besonders hierin
einen wesentlichen Unterschied zu den damaligen westeuropäischen Strafanstalten, in
denen auch Früchte, Milchprodukte oder Eier Bestandteil der Verpflegung gewesen sei
en.
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Vor dem Hintergrund der bäuerlichen Lebenswelten des ausgehenden 19. und be
ginnenden 20. Jahrhunderts in Russland präsentiert sich die Kost in der transbaikali
schen Katorga allerdings in einem nochmals anderen Licht. Denn der Speiseplan der
370 M
OŠKINA
Katorga, S. 37f.
371 Vgl. auch die Ausführungen im Abschnitt „Arbeiten in der Katorga“ in diesem Kapitel (S. 86).
372 Nach den Angaben bei R
ADZILOVSKAJA
/O
RESTOVA
Katorga, S. 23f., setzte sich diese Ration folgender
maßen zusammen; 1 zolotnik (zol.) entspricht 4,26 Gramm: 2¼ Pfund Brot, 32 zol. Fleisch, 18 zol.
Grütze, 24 zol. Kartoffeln, 8 zol. Salz, 2¼ zol. Fett, 3 zol. Zwiebeln, 1 zol. Tee, ⅓ zol. Pfeffer für 10
Personen, ¼ zol. Lorbeerblätter für 10 Personen, 24 zol. Kohl.
373 Die Fastengebote des Kirchenjahres bestimmten mithin auch den Alltag im Gefängnis. Vgl. für die
bäuerliche Lebenswelt G
OEHRKE
Alltag 2, S. 195f., und die Ausführungen im Abschnitt „Bildungs
aktivitäten“ in diesem Kapitel (S. 102).
374 R
ADZILOVSKAJA
/O
RESTOVA
Katorga, S. 24.
375 R
ADZILOVSKAJA
/O
RESTOVA
Katorga, S. 23, und K
ACHOVSKAJA
Iz vospominanij, S. 75.
376 K
ACZYNSKA
Gefängnis, S. 100.
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4.2. Die Katorga-Gesellschaft: In der Kommune der „Politischen“
bäuerlichen Bevölkerung glich sehr stark jenem der Katorga – auf ihm figurierten zur
Hauptsache Schwarzbrot, Kohlsuppe, Grützbrei, Teigtaschen und zunehmend Kartof
feln. Fleisch kam nur sehr selten auf den Tisch oder wurde in Form von günstigem Pö
kelfleisch zuweilen der Suppe beigegeben.
377
Im Katorga-Gefängnis gab es jedoch, wie
die Ausführungen gezeigt haben, regelmäßig Fleisch, wenngleich oft von mangelhafter
Qualität.
378
Auch wenn das Essen im Gefängnis wohl qualitativ schlechter war, bewegte
sich die Kost im Rahmen dessen, was zumindest auf dem Land zum Alltag gehörte – zu
einem Alltag freilich, der den meisten politischen Katorga-Sträflingen sehr fremd ge
wesen sein muss, weil sie landadligen oder, zur Hauptsache, städtischen Milieus ent
stammten. Dass sie, überdies, auf das dunkle Brot lieber verzichteten, als es selbst zu es
sen, mutet mit Blick auf die Lagerwelten des 20. Jahrhunderts, in denen es zuweilen
nichts anderes
als Brot zu essen gab, fast schon frivol an.
379
4.2.2. Politische und soziale Brüche
Das Leben in der Kommune wurde nicht überall gleich restriktiv aufgefasst. Im Frauen
gefängnis von Mal’cevskaja (in der Zeit nach 1907) stand alles, was in diesen verlore
nen Winkel Transbaikaliens gelangte, auch alle persönlichen Geschenke und Bücher,
generell der ganzen Gemeinschaft zur Verfügung.
380
Sogar als eine der „Politischen“ ein
mal von Verwandten aus Italien eine Torte zugeschickt bekam, erhielt jede der Insassin
nen ein
ganz kleines Stückchen davon, das überdies äußerst sättigend war. Dass das Pro
dukt eigentlich zuvor noch hätte gebacken werden müssen, erfuhren die Frauen – zum
Amüsement aller – erst in einem späteren Brief.
381
Das politische Gefängnis in Nižnjaja
Kara (zweite Hälfte 1880er Jahre) definierte die Kommune weniger strikt. Bei persönli
chen Paketen mit Büchern oder Kleidern stand es jedem Kommunarden frei, die Gegen
stände in den Besitz der Allgemeinheit zu überführen oder sie für sich selbst zu behal
ten. Bücher sollten aber, auch wenn sie Eigentum eines Gefangenen blieben, allen zu
gänglich sein.
382
Nach den Ausführungen Deutschs war „das Bestreben nach Gleichheit
377 G
OEHRKE
Alltag 2, S. 194f. Einschlägige Untersuchungen zeigen, dass die – hart arbeitende – Landbe
völkerung genügend Kalorien zu sich nahm, wie Carsten Goehrke ausführt. Wie noch zu zeigen sein
wird, beschränkte sich in der Katorga die schwere Arbeit auf ausgewählte Gefängnisse und Zeiträume.
Vgl. dazu und zum Verhältnis von Verpflegung und Arbeitsleistung den Abschnitt „Arbeiten in der
Katorga“ (S. 86).
378 O
RLOV
Ob Akatue, S. 110, bemerkt für die 1890er Jahre in Akatuj, auf das Fleisch hätten viele ver
zichtet, weil es zumindest im Sommer oft halb verdorben gewesen sei.
379 Vgl. zur Bedeutung der Brotration im Gulag
die Ausführungen bei A
PPLEBAUM
Gulag, S. 213–215.
380 R
ADZILOVSKAJA
/O
RESTOVA
Katorga, S. 23: „Wir lebten im buchstäblichen Sinne des Wortes gemein
schaftlich. Alle erhaltenen Geldmittel, Päckchen und Bücher wurden allgemeiner Besitz und
gingen in
den allgemeinen Gebrauch über.“ – Grigorij Kramarovs Bemerkung, die Intensität der kommunalen
Organisation sei nirgendwo größer gewesen als in Gornyj Zerentuj 1907, ist demnach zu relativieren.
Dort ging, ebenso wie in Mal’cevskaja, alles, was an Mitteln und Gegenständen eintraf, in den Besitz
der Kommune über, vgl. K
RAMAROV
Kommuny, S. 135.
381 R
ADZILOVSKAJA
/O
RESTOVA
Katorga, S. 26.
382 K
ON
Pod znamenem, S. 268. D
EUTSCH
Sechzehn Jahre, S. 237, erwähnt den „Generaldivisor“ jeder
Kammer, der dafür zuständig war, die Gegenstände gerecht zu verteilen. Zu den Büchern und Gefäng
nisbibliotheken vgl.
die Ausführungen im Abschnitt „Bildungsaktivitäten“ in diesem Kapitel (S. 102).
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