Osteuropa-institut



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OSTEUROPA-INSTITUT MÜNCHEN  Mitteilung Nr. 56
und so galt es, die Zellen so zu nutzen, dass jeder seinen Studien nachgehen konnte. An­
gesichts der engen Platzverhältnisse und der nicht fürs Lesen und Lernen ausgelegten 
Einrichtung war dies eine Herausforderung – nicht erst nach 1905, als mehrere Dutzend 
Sträflinge eine Kammer bewohnten, sondern bereits im politischen Gefängnis von Nižn­
jaja Kara in der 1880er Jahren. Tagsüber ging es zu und her wie in einem Bienenhaus, 
so dass an konzentrierte Arbeit nicht zu denken war, und abends entspannen sich an den 
mit einer Lampe spärlich beleuchteten Tischen Diskussionen, allerdings nur bis 22 Uhr; 
danach blieben noch zwei oder drei Stunden ruhigen Lesens.
522
 Wem das nicht reichte, 
der   legte   sich   früh   ins   Bett,   um   nachts   zwischen   zwei   und   drei   Uhr,   wenn   der 
„Sirius“-Stern leuchtete, aufzustehen und bis zum Morgengrauen in absoluter Stille der 
intellektuellen Beschäftigung nachzugehen.
523
 
In einer späteren Phase der Katorga, besonders nach 1905, als die Zahl der „Poli­
tischen“ allein im Gefängnis von Gornyj Zerentuj an die 500 Personen ausmachte,
524
 
musste nach neuen Wegen gesucht werden, um allen Lern-, Schreib- oder Lesewilligen 
gerecht zu werden. Nun wurde endgültig die Nacht zum Tag. Für die stille Arbeit – Le­
sen, Briefeschreiben – gab es zwei Schichten. Die erste Schicht – „Feuerwehrmänner“ 
(požarniki) genannt – nutzte die Ruhephase zwischen dem Ende des Abendessens und 
Mitternacht, die zweite – als „Hähne“ (petuchi) bezeichnet – die Zeit von Mitternacht 
bis zum frühen Morgen. Zur Stärkung wurden während kurzer Pausen Tee und speziell 
für die nächtliche Arbeit aufgesparte Roggenbrot-Scheiben gereicht. Dank verständnis­
vollen Aufsehern, die bisweilen nachts kurz vorbeischauten und mit dem einen oder an­
dern leise Gespräche führten, konnten die Häftlinge bis weit  in den Morgen hinein 
schlafen; beim Appell (poverka) wurden sie mitgezählt, unabhängig davon, ob sie schon 
wach und aufgestanden waren oder noch schliefen.
525
 Im Frauengefängnis von Mal’cevs­
kaja legten je nach Zelle unterschiedliche „Konstitutionen“ die Ruhezeiten fest, die in 
der Regel am Morgen bis zum Mittagessen und abends bis Mitternacht dauerten. Wer 
sich hier abends noch mit einer Genossin über das eben Gelesene oder Geschriebene 
austauschen wollte, tat dies schriftlich.
526
Schon im Gefängnis in Moskau hatten Irina Kachovskaja und ihre damaligen Ge­
fährtinnen dafür gekämpft, Bücher zu bekommen und lesen zu dürfen.
527
  Neben dem 
Austausch mit den Mithäftlingen gab ihr in den Jahren der Katorga nur noch die „Welt 
linge verschiedener Zellen gedient habe.
522 D
EUTSCH
 Sechzehn Jahre, S. 216, und K
ON
 Pod znamenem, S. 267. 
523 K
ON
 Pod znamenem, S. 267. Die nächtens arbeitenden Häftlinge wurden, in Anlehnung an den Stern, 
„Siriusse“ (siriusy) genannt.
524 P
LESKOV
 „Vol’nyj universitet“, S. 167, für das Jahr 1907.
525 P
LESKOV
 V gody, S. 148, und bes. P
LESKOV
 „Vol’nyj universitet“, S. 167f. Als Erklärungen für die Be­
zeichnungen požarniki und petuchi gibt Pleskov (S. 167) Folgendes an: Die erste Schicht erhielt ihren 
Namen von einer Löschaktion, als beim Aufbrühen von Tee über der Lampe ein Hand- oder Leintuch 
in Flammen geriet; die zweite Schicht trug die Bezeichnung, weil sie dann ins Bett ging, wenn die 
Hähne zu krähen begannen. Pleskov garantiert die Richtigkeit dieser Erläuterungen nicht. Zumindest 
die zweite scheint aber durchaus plausibel zu sein.
526 R
ADZILOVSKAJA
/O
RESTOVA
 Katorga, S. 33, K
ACHOVSKAJA
 Iz vospominanij, S. 78f., und für die anschlie­
ßende Zeit in Akatuj P
IROGOVA
 Na ženskoj katorge, S. 159. Zu den „Konstitutionen“ vgl. auch Kap. 
4.2 (S. 74).
527 K
ACHOVSKAJA
 Iz vospominanij, S. 59. Vgl. Kap. 3.2.1 (S. 38).
104


4.5. Bildungsaktivitäten und der Kontakt zur Außenwelt
der Bücher“ Trost und Kraft. „Für den Verlauf vieler Jahre erschien diese doppelte Welt 
als unerschöpfliche Quelle des Lebens, der Freude und Sorge“, schreibt sie im Rück­
blick.
528
  Aus der Freiheit kamen viele Bände – (wissenschaftliche) Sachbücher (wobei 
aus naheliegenden Gründen politische und ökonomische Texte fehlten) und schöne rus­
sische und ausländische Literatur; das Spektrum dessen, womit sich die weiblichen poli­
tischen Katorga-Sträflinge beschäftigten, kannte kaum Grenzen. Die jungen Frauen – 
über die Hälfte waren Studentinnen oder anderweitig höher gebildet
529
 – lasen Nietzsche 
und Hegel, Vladimir Solov’ev, indische Philosophen, Pascal und die Bibel, Tolstoj, Do­
stoevskij, Merežkovskij, Bogdanov und zeitweise französische Literatur und ließen sich 
von der oftmals noch unbekannten Geisteswelt inspirieren; vor allem Dostoevskij beein­
druckte und beeinflusste manche.
530
 
Die Zusendungen von Angehörigen und Freunden und die Journale, in denen neueste 
Literatur gedruckt wurde, waren nicht die einzige Quelle für die lesebegierigen Gefan­
genen in Mal’cevskaja und anderswo. Sehr wichtig waren die Bestände aus den Biblio­
theken der Gefängnisse. Die Bibliothek von Mal’cevskaja umfasste 700 bis 800 Bände 
philosophischer,   historischer,   soziologischer,   kulturhistorischer,   wirtschaftswissen­
schaftlicher und belletristischer Literatur, von letzterer auch französisch-, englisch- und 
deutschsprachige Werke.
531
 Umso herber war der Einschnitt, als nach der Übersiedlung 
des   Frauengefängnisses   nach   Akatuj   der   dortige   Gefängnisdirektor   alle   Bücher   ins 
Zeughaus verfrachtete und die Sträflinge nur sehr eingeschränkt darauf zurückgreifen 
konnten.
532
 Die Bibliothek wurde auch im politischen Gefängnis von Nižnjaja Kara um­
sichtig betreut; einer der Häftlinge versah das Amt des Bibliothekars und erkundigte 
sich täglich nach den Wünschen seiner Mitgefangenen.
533
  Hier fanden sich besonders 
historische,   mathematische   und   naturwissenschaftliche   Bände,   ebenso   waren   andere 
Fachgebiete vertreten, in zahlreichen europäischen und auch klassischen Sprachen, wie 
Deutsch schreibt; und Kon berichtet sogar von Marx, Engels und Černyševskij, aller­
dings fehlten zum Teil Seiten.
534
 Die Frauen im Kara-Tal besaßen keine eigene Biblio­
thek, konnten sich aber wöchentlich über jene des Männergefängnisses mit Literatur 
versorgen.
535
 Auf den Beständen der Bibliothek von Kara baute später, nach 1890, auch 
jene in Akatuj auf; einen besonderen Zuwachs erreichte diese dadurch, dass liberale 
Verlage Petr Jakubovič-Mel’šin, dem bekannten Schriftsteller, ihre Bücher bis in die 
Katorga zukommen ließen.
536
 Und wo es, wie im Minen-Lager von Šamanka, keine Bi­
528 K
ACHOVSKAJA
 Iz vospominanij, S. 77. Vgl. auch Kap. 4.1 (S. 65).
529 R
ADZILOVSKAJA
/O
RESTOVA
 Katorga, S. 30.
530  K
ACHOVSKAJA
 Iz vospominanij, S. 77–79, und R
ADZILOVSKAJA
/O
RESTOVA
 Katorga, S. 31f. K
ACHOVSKAJA
 
(S. 78) reflektiert die relative Unwissenheit ihrer Revolutionärinnengeneration, die sich „instinktiv“ 
der revolutionären Bewegung angeschlossen habe; der Anschluss an die eine oder andere Gruppie­
rung sei meist aufgrund von Zufällen erfolgt. Die intellektuelle Durchdringung der Positionen habe 
erst im Gefängnis stattgefunden.
531 R
ADZILOVSKAJA
/O
RESTOVA
 Katorga, S. 32, und P
IROGOVA
 Na ženskoj katorge, S. 150
532 P
IROGOVA
 Na ženskoj katorge, S. 156.
533 K
ON
 Pod znamenem, S. 267f.
534 D
EUTSCH
 Sechzehn Jahre, S. 214, und K
ON
 Pod znamenem, S. 268. 
535 P
RIBYLEVA
 Moi vospominanija, S. 149.
536 F
REJFEL

D
 Iz prošlogo (okončanie), S. 91.
105


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