Osteuropa-institut



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OSTEUROPA-INSTITUT MÜNCHEN  Mitteilung Nr. 56
ter nicht, wer deren Vater ist.“
513
 Kachovskaja vermutet aber, für die weiblichen Kator­
ga-Häftlinge, die oft wegen der Ermordung ihres Ehemannes zu langen Strafen verurteilt 
worden waren, sei Mal’cevskaja im Vergleich zum Leben auf dem russischen Dorf gera­
dezu paradiesisch gewesen.
514
  Dass diese Relation umso stärker noch für die „Politi­
schen“ bedenkenswert ist, fehlt in dieser Analyse. Die Berührungspunkte waren mithin 
wenig zahlreich und die Friktionsmöglichkeiten entsprechend gering; vielleicht entspan­
nen sich deshalb auch keine Probleme zwischen den Häftlingsgruppen. Die Gefangenen­
lieder der kriminellen Katorga-Frauen weckten auch die Sehnsüchte ihrer politischen 
Leidensgenossinnen.
515
 
Der soziale Raum, wie er sich auf dem Weg nach Osten auszubilden begann, umfass­
te zwar die politischen und die kriminellen Gefangenen. Sie bildeten gemeinsam die 
Katorga-Gesellschaft, aber sie lebten stets in parallelen oder gänzlich getrennten Wel­
ten. Selbst dann, wenn der Alltag vereinheitlicht werden sollte und die Gruppen zur 
Nähe gezwungen waren, lösten sich die Grenzen nicht auf; höchstens fanden sie zu ei­
nem prekären, aber für beide erträglichen und zuweilen gar von gegenseitiger Unter­
stützung geprägten Nebeneinander.
516
 Immer wieder versuchte die Gefängnisadministra­
tion, die Spannungen für sich auszunutzen oder zu ihrem Vorteil zu schüren. Aber das 
gelang kaum je, weil die „Politischen“ sehr stark waren und, im Zuge der Umschichtung 
der (politischen) Katorga-Gesellschaft nach 1905, selbst immer unzimperlicher in der 
Verteidigung ihrer Interessen wurden. Wie die Ausführungen gezeigt haben, waren sie 
in Akatuj in den neunziger Jahren trotz den Missstimmungen und Aufhetzungen respek­
tiert, ja geachtet; dasselbe galt, von Ausnahmen abgesehen, auch in späteren Jahren. Die 
Kriminellen waren nicht einfach die Mächtigen und die „Politischen“ die Unterdrück­
ten, wie es die Zahlenverhältnisse suggerieren könnten. Auch darin unterschied sich die 
Häftlingsgesellschaft der Katorga von jener der Lagerwelten nach 1917.
517
4.5. Bildungsaktivitäten und der Kontakt zur Außenwelt
Die fehlenden Arbeitsmöglichkeiten in der Nerčinsker Katorga über viele Jahre hinweg 
führten zu einer mitunter schwer zu ertragenden Monotonie eines Alltags, der sich aus­
schließlich hinter den Gefängnismauern abspielte. Die Unfähigkeit der Katorga-Verwal­
tung, die zu Zwangsarbeit verurteilten Häftlinge arbeiten zu lassen, eröffnete aber auch 
erfrischende Chancen; nicht die von oben oktroyierte Arbeit rückte in den Mittelpunkt 
513 R
ADZILOVSKAJA
/O
RESTOVA
  Katorga, S. 41. Die „Politischen“ spielten manchmal mit den Kindern und 
veranstalteten einmal sogar einen Kindermaskenball, vgl. ebd., S. 43.
514 K
ACHOVSKAJA
 Iz vospominanij, S. 87. Die Feststellung gilt wohl insofern auch für die Kinder, als diese 
hier in einem vergleichsweise geschützten, wenn auch realitätsfernen Umfeld aufwuchsen. In Gornyj 
Zerentuj existierte außerhalb der Mauern ein Kinderheim, vgl. die Ausführungen im  Kap. 4.5 (S. 
102). Zum Alltag und zur Stellung der Frau in der Familie auf dem russischen Dorf im ausgehenden 
Zarenreich vgl. G
OEHRKE
 Alltag 2, S. 200–204.
515 R
ADZILOVSKAJA
/O
RESTOVA
 Katorga, S. 43.
516 Ein gutes Beispiel dafür sind die Verhältnisse in Akatuj in den neunziger Jahren, nach den größeren 
Auseinandersetzungen mit den Kriminellen.
517 Zum Verhältnis  von professionellen  Kriminellen  (urki),  gewöhnlichen  Häftlingen  und  unter  poli­
tischen Vorzeichen inhaftierten Gefangenen im Gulag vgl. das eindringliche Kapitel „The Prisoners“ 
in A
PPLEBAUM
 Gulag, S. 280–306.
102


4.5. Bildungsaktivitäten und der Kontakt zur Außenwelt
des Lebens im Gefängnis, sondern die aus der Eigeninitiative geborene, intensive Be­
schäftigung mit Literatur, Sprache, Kunst und Naturwissenschaften. Inspiration und Le­
benskraft schöpften die politischen Sträflinge aus Büchern, Zeitschriften und den Dis­
kussionen über das Gelesene und Erarbeitete. Gleichzeitig verband dies die  katoržane 
mit der Außenwelt, die sie über Zeitungen, Journale, Briefe, Pakete und seltene Besuche 
wahrnahmen. Von außen kam der neue Lesestoff in Form der Periodika oder Bücher, so 
dass der Komplex von Lesen und Lernen ohne die Drähte zur Außenwelt nicht denkbar 
gewesen wäre. Die Auseinandersetzung mit Literatur, Zeitgeschehen und Wissenschaft 
diente, insbesondere nach der Revolution von 1905, auch politischen Zielen, und die 
Darstellung der učeba, des Studiums, und der kul’trabota, der (propagandistisch aufge­
ladenen) „Kulturarbeit“, in den Erinnerungsberichten ist stellenweise von revolutionä­
rem Pathos geprägt. Die spätere sowjetische Forschung hat dies dankbar aufgenommen, 
ohne aber über die Aufzählung der Bildungsleistungen und das Lob der Fortsetzung des 
revolutionären Kampfs hinauszukommen.
518
 An der Bedeutung der kulturellen Tätigkeit, 
die sich auch auf Musik, Chorgesang und Theaterspiel ausdehnte und, wo es gestattet 
war, die ugolovnye einbezog, zielt eine solche Darstellung vorbei. Denn auf erstaunliche 
Weise legt das Phänomen die Freiräume offen, welche die transbaikalische Katorga des 
ausgehenden Zarenreichs allen Härten zum Trotz ihren Insassen bot. Man könnte es gar 
als Privileg verstehen, wenn Häftlinge in der Lage sind, zu kämpfen „nicht nur für die 
menschliche Würde, für das Recht zu leben, sondern auch für das Recht zu lernen, eine 
Bibliothek zu haben, Bücher zu lesen“
519
. Mit den kulturellen Aktivitäten, dem Lesen, 
Lernen und Feiern, und den Drähten zur Außenwelt rückt ein weiterer, zentraler Aspekt 
des Häftlingsalltags in den Blick.
4.5.1. Lesen und Lernen
Über viele Jahre hinweg glich die Katorga in den Gefängnissen Ostsibiriens einer Schu­
le, einer Lehr- und Lernanstalt. Weil eine andere Beschäftigung fehlte und die Bildungs­
arbeit zunehmend in einem politischen Sinn verstanden wurde, bestimmte das Lesen, 
Lehren und Lernen den Alltag, auch in dessen Abläufen. „Den Hauptinhalt unseres Le­
bens bildete der Unterricht“, schreiben Fanni Radzilovskaja und Lidija Orestova in ih­
rem   Erinnerungsbericht.
520
  Die   Gemeinschaftszelle   war   auch   hierfür   der   Nukleus   – 
räumlich  und organisatorisch; andere Räumlichkeiten  als die Kammern  standen den 
Häftlingen in der Regel nicht zur Verfügung – höchstens der Flur zum Ausweichen
521
 –, 
518 Vgl. für diese Art von Aufarbeitung den Aufsatz von T
AGAROV
 Učeba, S. 71–84. Tagarov stützt sich 
nach eigenen Angaben auf Archivmaterial, ohne dass daraus aber ein bunteres Bild entstünde und ins­
gesamt tiefschürfende Erkenntnisse resultierten. K
ACZYNSKA
 Gefängnis, S. 185, konzentriert sich aus­
schließlich auf die Ssylka.
519 T
AGAROV
 Učeba, S. 71.
520 R
ADZILOVSKAJA
/O
RESTOVA
 Katorga, S. 30.
521 So beispielsweise im vorübergehenden Gefängnis für „Politische“ in Ust’-Kara 1882, wo die Häft­
linge in Zweierzellen untergebracht waren, aber der Flur als geselliger Ort – gleichsam als „gute Stu­
be“ – diente, vgl. B
OGDANOV
 Smert’, S. 106. Ähnliches schreiben auch R
ADZILOVSKAJA
/O
RESTOVA
 Kat­
orga, S. 32f., und K
ACHOVSKAJA
 Iz vospominanij, S. 78, für das Mal’cevskaja-Gefängnis; der Korridor 
sei der beliebteste Ort für die Lerneinheiten gewesen. D
EUTSCH
 Sechzehn Jahre, S. 211, berichtet da­
von, dass in Nižnjaja Kara die Küche, „unser Klublokal gewissermaßen“, oft als Treffpunkt der Häft­
103


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