4.6. Provokation, Widerstand, Flucht: Die Häftlinge und die Gefängnisadministration
alltag allen Beteiligten zugute kam, musste hinter der ideologischen Argumentation ver
schwinden. Eine zentrale Rolle in der Kommunikation zwischen dem Häftlingskollektiv
und der Obrigkeit kam dem
starosta, dem Vorsteher der Kommune, zu. Er musste die
Interessen der Häftlinge bei der Gefängnisleitung vorbringen, ohne diese zu provozie
ren.
618
Die Änderung der Strafpolitik 1890 führte, wie bereits in anderen Zusammenhängen
dargestellt, wenigstens für das letzte Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts zu einer strikteren
Anwendung einiger Zwangsmaßnahmen.
619
Die Fußfesseln waren nun bei allen Sträf
lingen wieder Pflicht, ebenso die offizielle Gefängniskleidung. Nach Auseinanderset
zungen zwischen der Gefängnisadministration und den „Politischen“ erwirkten diese
aber, dass bei den umstrittenen Begrüßungsformeln vom Reglement abgewichen wur
de.
620
Die rechte Kopfhälfte wurde weiterhin regelmäßig rasiert, bei harschem Regime
sogar dann, wenn es sich um einen Epileptiker handelte, der eigentlich von der Maßnah
me befreit sein sollte.
621
Nach der Revolution von 1905, als die Zahl der politischen Häftlinge wieder stark
anstieg und revolutionär gestimmte, breite Bevölkerungssegmente in der Katorga Ein
zug hielten, herrschte, je nach Gefängnis unterschiedlich lange, die insgesamt wohl frei
heitlichste Zeit in den Haftanstalten des Nerčinsker Kreises.
622
Der glücklose Vorsteher
der Nerčinsker Katorga Metus (er wurde später ermordet) sprach bei seinem Amtsantritt
vom „Regime eines Klubs“ und von einer „empörenden Verhöhnung des Gesetzes“; so
wurden in Zerentuj damals keine Fesseln getragen, die Zellentüren standen offen, die
Häftlinge trugen ihre eigene Kleidung, kommunizierten mit der Außenwelt und hatten
freie Hand bei der Organisation ihres Kollektivs.
623
Wenngleich ab 1907 das Regime
wieder anzog, blieben viele Freiräume bis 1910 offen, zumal in Gornyj Zerentuj – und
im Frauengefängnis Mal’cevskaja, obwohl das vermutlich in besonderem Maße unbeab
sichtigt war. Denn die weiblichen politischen Katorga-Sträflinge wurden 1907 auf An
ordnung des Generalgouverneurs von den Männern in Akatuj separiert und sollten unter
strengen Bedingungen in einem eigenen Gefängnis ihre Haft verbüßen.
624
In Mal’cevska
ja bestanden jedoch bis 1911 (als die Überführung von 1907 unter umgekehrten Vorzei
chen rückabgewickelt wurde) besonders große Freiräume. Die demütigenden Symbol
handlungen der Obrigkeit waren auf ein Minimum beschränkt – es gab keine Fesseln,
618 Das galt über die ganze Zeit der Katorga hinweg; vgl. für Nižnjaja Kara in den achtziger Jahren K
ON
Pod znamenem, S. 269, für Akatuj 1890 Č
UJKO
God, S. 112f., und für Zerentuj 1908–1910 P
LESKOV
„Vol’nyj universitet“, S. 166, und Č
EMODANOV
Katorga, S. 57f. aus Sicht des Gefängnisdirektors. Vgl.
die Ausführungen im Kap. 4.2.2. (S. 79) zur politischen Organisation in der Kommune.
619 Vgl.
das Reglement bei F
OMIN
Katorga, S. 20–24.
620 O
RLOV
Ob Akatue, S. 106f.
621 F
REJFEL
’
D
Iz prošlogo (okončanie), S. 98.
622 Vgl. R
ADZILOVSKAJA
/O
RESTOVA
Katorga, S. 19, und Ž
UKOV
Režim, S. 120f.
623 Ž
UKOV
Režim, S. 120. Vgl. auch F
OMIN
Katorga, S. 25. Zur Ermordung Metus’ vgl. Ž
UKOV
Režim, S.
123.
624 Bei F
OMIN
Katorga, S. 25, ist das Telegramm von Metus an den Gefängniskommandanten von Akatuj
vom 2. Februar 1907 abgedruckt, worin Metus die Überführung der Frauen nach Mal’cevskaja ver
fügt; ebd., S. 24, findet sich die Anweisung des Generalgouverneurs Ėbelov an Metus vom 6. Januar
1907 zur Verschärfung der Haftbedingungen in Akatuj sowie im künftigen Frauengefängnis von Mal’
cevskaja.
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