OSTEUROPA-INSTITUT MÜNCHEN
Mitteilung Nr. 56
den und erzeugten entsprechend provokative Reaktionen. Diese drückten sich aus in
Fluchtversuchen und Protesten bis hin zur Selbstopferung.
Die Haftbedingungen lassen sich von keinem der Themenkomplexe trennen, welche
die Welt der Katorga beschreiben: Von der Ankunft im „Archiv der Revolutionäre“ über
die Organisation des Zusammenlebens und der Arbeit bis zur Gestaltung der Freiräume
und zur Kommunikation mit der Außenwelt legte das Regime den Rahmen fest für den
Alltag der Häftlinge, der seinerseits ein Spiegelbild der durch die Administration ge
duldeten Freiheiten und verfügten Einschränkungen darstellt. Wenngleich bereits ein
vielfältiges Bild der Haftbedingungen gezeichnet worden ist, sind die Mechanismen der
Wechselbeziehung zwischen der Häftlingsgesellschaft (mit ihren inneren Brüchen) und
der Administration der Gefängnisse eine gesonderte Betrachtung wert. Die Mechanis
men sind auch deshalb von Bedeutung, weil sie im Kleinen auf das Verhältnis von (sich
emanzipierender) Gesellschaft und Obrigkeit im ausgehenden Zarenreich insgesamt zu
verweisen vermögen. Überdies korrelierten die Haftbedingungen besonders nach der
Revolution von 1905 mit der sich verschärfenden innenpolitischen Lage;
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zwischen
1906 und dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs häuften sich auch in der Nerčinsker Kat
orga die Konflikte.
In den Erinnerungsberichten nehmen die Schilderungen vom Kampf der unterdrück
ten politischen Häftlinge gegen die Gefängnisobrigkeit einen wichtigen Platz ein. Sie
dienten bereits in den Memoiren, noch stärker aber in ihrer Rezeption durch die sowje
tische Forschung, als Beispiel für die auch in der Katorga zu allem entschlossenen Re
volutionäre.
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Nicht dieser Topos und nicht die Details der einzelnen Ereignisse inter
essieren aber primär, sondern die Auskünfte, die sie über das Funktionieren eben jener
Mechanismen der Wechselbeziehungen zu geben vermögen, die zeigen, in wessen Hän
den die Macht tatsächlich lag.
4.6.1. Symbole der Demütigung – Zwischen Duldung und Aufbegehren
Zwischen den Vorgaben und der Wirklichkeit klaffte in der Katorga des ausgehenden
Zarenreichs immer eine große Lücke. Das traf auf die fehlenden Arbeitsmöglichkeiten
für Zwangsarbeitshäftlinge zu, aber auch das Regime im Gefängnis entsprach selten ge
nau den Reglementen. Deren Einhaltung war Zyklen unterworfen, die von äußeren Fak
toren – politischen Veränderungen, neuen Haftkonzepten – bestimmt waren. Relative
Freiheiten, die nach einiger Zeit zu Traditionen wurden, konnten plötzlich umgestoßen
werden zugunsten einer vermeintlich exakteren, häufig auch willkürlichen Auslegung
alter oder neuer Vorschriften. Oft gingen jene, die den Sturm entfachten, in ihm alsbald
unter; scharfe Bedingungen ließen sich kaum je lange halten.
Demütigungen sind mit Symbolen verbunden. Zeichenhaft erfolgte die Verwandlung
des gewöhnlichen Häftlings in einen
katoržanin vor dem Transport nach Osten durch
602 Vgl. die Ausführungen im Kap. 2.1 (S. 23) und 2.3 (S. 31).
603 Für die Rezeption in der sowjetischen Forschung vgl. die Beiträge von P
ATRONOVA
Karijskaja tragedia,
S. 81–103, und T
AGAROV
Protesty, S. 62–88, die auf Memoiren und auf Archivquellen beruhen, aber
in der bekannten Art wenig Erhellung bringen, sondern in additiver Form oft dramatisierend die Er
eignisse nachzeichnen.
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4.6. Provokation, Widerstand, Flucht: Die Häftlinge und die Gefängnisadministration
das Rasieren der rechten Kopfhälfte, das Anlegen der eisernen Fesseln und das Ein
kleiden in den uniformen grauen Mantel, den
chalat.
604
Symbolhafte Handlungen waren
es auch, die in den Augen der politischen Sträflinge die Haftumstände später in den Kat
orga-Gefängnissen besonders schwer erträglich machten. Zu diesen zählten – weiterhin
– das Rasieren und die Fesseln, die Körperstrafe sowie, vor allem seit der formellen
Gleichstellung der politischen mit den kriminellen Katorga-Häftlingen 1890, die Frage
der Begrüßung und der Anrede durch die Gefängnisadministration.
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Die Androhung,
Anordnung oder Vollstreckung der Körperstrafe sowie die verbale Behandlung der „Po
litischen“ entwickelten sich zum Angelpunkt der Beziehungen zwischen den Insassen
und der Verwaltung, weil die
katoržane nicht bereit waren, auf das zu verzichten, was
sie als für ihre Würde als Menschen grundlegend erachteten. Die Körperstrafe bedeutete
den schärfsten Angriff auf ihre physische und psychische Integrität.
606
Aber sie emp
fanden auch das Duzen
(tykanie) durch die Aufseher und Gefängnisleitung und deren
Begrüßungsformel
„Smirno, šapki doloj! Zdorovo, rebjata!“ („Achtung, Mützen ab!
Guten Tag, Burschen!“) mit der vorgesehenen Antwort der Häftlinge
„Zdravja želaju,
vaše blagorodie!“ („Ich wünsche Gesundheit, Euer Wohlgeboren!“) als erniedrigend
und weigerten sich, nach den Vorstellungen der Obrigkeit zu reagieren.
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Für ihre Wür
de – und jene ihrer Mitgefangenen – waren sie bereit, Karzerhaft auf sich zu nehmen, in
den Hungerstreik zu treten und, in dessen Konsequenz, nötigenfalls auch ihr eigenes Le
ben zu opfern.
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Die meisten dieser Symbole relativierten sich im Katorga-Gefängnis mindestens teil
weise. Das galt nicht für die Phasen der Verschärfungen, die sich in Nižnjaja Kara zwi
schen 1881/2 und 1885 über eine längere Zeit erstreckten
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und in der Nerčinsker Kat
orga zwischen 1910 und 1912 gehäuft auftraten. Vor und nach dem Intermezzo der Här
te und der Proteste waren die Haftbedingungen an der Kara vergleichsweise locker. Im
vorübergehenden Gefängnis für die „Politischen“ in Srednjaja Kara 1881 befanden sich
die Aufseher bis auf die morgendlichen und abendlichen Kontrollen und die militärische
Bewachung außerhalb der Umfriedung des Gefängnisses, so dass die Häftlinge sich in
Gebäude und Hof frei bewegen konnten.
610
Auch in der zweiten Hälfte der achtziger Jah
604 Das Rasieren betraf, wie früher dargelegt, natürlich nur die Männer. Vgl. die Ausführungen im Kap.
3.2.2 (S. 47).
605 Vgl. für die Haftbedingungen nach 1890 das Reglement, das bei F
OMIN
Katorga, S. 20–24, abgedruckt
ist.
606 Vgl. stellvertretend für weitere Einschätzungen K
ON
Pod znamenem, S. 301.
607 Die Regelungen zur Begrüßung sind in dem bei F
OMIN
Katorga, S. 20–24, dokumentierten Reglement
ebenfalls festgehalten, vgl. ebd., S. 22. Beispiele für die Probleme bei der Umsetzung bei S
LOMJANSKIJ
V Algačach, S. 139f., O
ZEROV
Put’, S. 158f., und F
OMIN
Katorga, S. 38f. (für Kutomara). Der General
gouverneur wünschte statt mit
„vaše blagorodie“ mit
„vaše prevoschoditel’stvo“ („ihre Exzellenz“)
angesprochen
zu werden, vgl. Ž
UKOVSKIJ
-Ž
UK
V dni, S. 177.
608 Zur Karzerhaft vgl. S
LOMJANSKIJ
V Algačach, S. 141. Im Karzer von Algači herrschte große Kälte und
eine Wanzenplage; die Essensration betrug pro Tag 500 Gramm Brot sowie Wasser. Zur Opferbereit
schaft vgl. u.a. K
ON
Pod znamenem, S. 310f.
609 Die Zeit zwischen 1881 und 1885 war für die „Politischen“ an der Kara durch eine massive Ein
schränkung der Freiräume (Korrespondenz, Arbeitsmöglichkeit, Hofgang, Fesseln) und die Sistierung
des „Freien Kommandos“ gekennzeichnet, vgl. K
ENNAN
Siberia II, S. 208f., 216, 259f. sowie L
EVČEN
KO
Pobeg, S. 56, B
OGDANOVIČ
Posle pobega, S. 73f., und M
OŠKINA
Katorga, S. 24f.
610 L
EVČENKO
Pobeg, S. 55.
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