OSTEUROPA-INSTITUT MÜNCHEN
Mitteilung Nr. 56
bliothek gab, halfen Aufseher, Ingenieure oder die örtliche Bevölkerung den Häft
lingen.
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Bücher waren, so lässt sich erkennen, eine Art Lebenselixier in der Gefangen
schaft. Das ist (aus der Perspektive des Wissenschaftlers) weniger erstaunlich als der
Umstand, dass es, übers Ganze gesehen, ohne größere Behinderungen gelang, selbst in
der transbaikalischen Katorga, dieser „anderen Welt“, an qualitativ hochwertige Sach
buchliteratur und Belletristik heranzukommen – und diese in den Mittelpunkt des Ge
fängnislebens zu rücken.
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4.5.2. Lehren und Lernen
In den Katorga-Gefängnissen verwandelte sich aber nicht einfach die Nacht zum Tag.
Die individuelle Lektüre und das Schreiben von Briefen und persönlichen Notaten fan
den zwar in der Zeit der abendlichen und nächtlichen Ruhe statt. Aber tagsüber wurde
die Auseinandersetzung mit Themen und Unterrichtsfächern in Diskussionsrunden und
Schul- und Vortragsstunden fortgesetzt – je nach dem, über welchen Bildungshinter
grund die Insassen verfügten und welche Ziele verfolgt wurden. Auch hier war das
Spektrum breit; selbstverständlich waren Lektüre, Diskussion und Unterricht oft thema
tisch verbunden, aber es gab für jede oder jeden etwas. Irina Kachovskaja beschreibt
einen Unterrichtsmorgen in Mal’cevskaja:
„In der Tiefe des Korridors, rund um das große Heiligenbild von Nikolaus dem Wunder
tätigen, […], präpariert eine Anatomieprüfung eine irgendwo aufgetriebene Taube; ne
benan studieren sie die assyrische Vorzeit […]. Ferner übersetzen sie „Jean-Christophe“,
lösen Aufgaben, schreiben Diktate, lesen in Gruppen Taylor, Neumeister, Darwin. Die
Gruppen wechseln sich ab: Sie gehen von der einen Lehrerin zur andern, die Schülerin
nen gruppieren sich anders.“
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Radzilovskaja und Orestova wundern sich im Rückblick, wie auf dem engen Flur 20 bis
25 Gefangene, die unterschiedlichen Themen nachspürten, lernen und lehren konnten.
540
Einige der Frauen beschäftigten sich ausgiebig mit mathematischen Problemen, lösten
algebraische und geometrische Aufgaben; andere lernten zusammen Fremdsprachen
oder, wie Paulina Metter, die ohne Russischkenntnisse nach Mal’cevskaja gekommen
537 G
UBEL
’
MAN
Šamanka, S. 186.
538 Der Umfang und Wert der Bibliothek und der Zugang zu ihr sagt durchaus etwas über die Umstände
der Haft aus, wie ein kleiner Seitenblick auf den Gulag zeigt. Bibliotheken gab es, dem Namen nach,
auch in den Lagerwelten des 20. Jahrhunderts. Die deutsche Kommunistin Susanne Leonhard, die in
Moskau Schutz vor der NS-Verfolgung gesucht hatte, in die Mühlen der stalinistischen Repression
geraten war und viele Jahre im Gulag verbrachte, war eine Zeit lang als „Bibliothekarin“ im Lager
Kočmes (Nordrussland, südlich von Vorkuta) beschäftigt. Sie schreibt: „Ich hatte überhaupt nicht ge
wusst, dass es eine Bibliothek in Kotschmess gab, denn bisher waren nie Bücher ausgeliehen worden.
‚Der Menschheit ganzer Jammer‘ fasste mich an, als ich dann sah, was von einer ehemaligen Biblio
thek übriggeblieben war. Von vielen Büchern waren nur noch die Buchdeckel vorhanden, von ande
ren existierten ein paar zerfetzte Blätter. Eine Urka, die […] ‚Erzieherin‘ gewesen war, hatte die Bü
cher oder Teile von ihnen als Zigarettenpapier verbraucht. Die Zwischenbretter des Bücherschranks
fehlten. Die Vertreterin der Kultur im Lager Kotschmess hatte sie verheizt.“ Vgl. L
EONHARD
Leben, S.
338f.
539 K
ACHOVSKAJA
Iz vospominanij, S. 78. „Jean-Christophe“ ist der Titel eines Romans von Romain Rol
land.
540 R
ADZILOVSKAJA
/O
RESTOVA
Katorga, S. 33.
106
4.5. Bildungsaktivitäten und der Kontakt zur Außenwelt
war, Russisch schreiben, lesen und sprechen.
541
Hinter den nachts verschlossenen Türen
der Kammern zogen sich die tiefgründigen Diskussionen oft stundenlang noch hin; ge
sprochen wurden über philosophische Grundfragen wie über das Selbstverständnis des
Menschen, über die Gottessuche, über Kollektivität und Individualität, Geist und Mate
rie.
542
In diesem Sinne war die ruhige politische Katorga in Mal’cevskaja eine Lebens
schule der besonderen Art.
Noch eine Spur intensiver, vielleicht auch verbissener und sicherlich ideologischer
und dogmatischer, vor allem jedoch in der Dimension ungleich viel größer präsentierte
sich der Unterricht
(učeba) in Gornyj Zerentuj in den Jahren 1908 bis 1910; das Gefäng
nis wird von einer der treibenden Kräfte
hinter der učeba, dem später auch in der Gesell
schaft der ehemaligen politischen Zwangsarbeiter und Verbannten
sehr aktiven Vladimir
Pleskov, als
„vol’nyj universitet“, als „freie Universität“, bezeichnet.
543
Unter den annä
hernd 500 „Politischen“ befanden
sich zur Hauptsache Soldaten, Matrosen
und Arbeiter;
Vertreter der Intelligenz machten nur eine kleine Gruppe aus. Die Kommune war hier
besonders mächtig. Angesichts der großen Zahl der wenig Gebildeten und des straffen
Kollektivs nahm der Unterricht rasch den Charakter einer Massenveranstaltung an und
verästelte sich zugleich in viele Richtungen.
544
Der Fächerkanon umfasste neben grund
legenden Lese- und Schreibfertigkeiten Mathematik, Biologie, Grundlagen der Philoso
phie, Politische Ökonomie, russische Geschichte und neue Literatur; dabei wurden unter
anderem Hegel, Marx, Engels, Lenin, Plechanov, Kautsky und Mehring diskutiert, aber
auch aktuelle zeitgenössische Publikationen wie der Band „Vechi“
(„Wegzeichen“) ei
ner Gruppe liberaler Intellektueller.
545
Immer wieder hielten Häftlinge auch Vorträge zu
aktuellen Themen. So erarbeitete Pleskov nach dem großen Erdbeben von Messina auf
grund der in der „sehr soliden“ Bibliothek vorhandenen Standardwerke innerhalb zweier
Wochen ein Referat über die geologischen Verhältnisse in Italien
546
– auch das war unter
den damals obwaltenden Umständen in Zerentuj möglich. Die Häftlinge gaben überdies
eine eigene handgeschriebene Zeitschrift heraus.
547
In seinen stark ideologisch gefärbten Ausführungen lässt Pleskov keinen Zweifel dar
an, dass die Bildungsarbeit nicht einem Selbstzweck diente, sondern von einem poli
tischen Impetus angetrieben war. Während die Zusammenstöße mit der Gefängnisad
ministration, von denen noch die Rede sein wird, den unbeirrten revolutionären Kampf
auch in der Katorga unter Beweis stellen sollten, unterstützten die Bildungs- und Kul
turaktivitäten auf friedlichem Feld die Fortsetzung des revolutionären Ringens, indem
541 R
ADZILOVSKAJA
/O
RESTOVA
Katorga, S. 31f., und M
ETTER
Stranička, S. 97. Metter tat sich, wie im Kap.
4.2.2 (S. 79f) bereits dargestellt, mit dem intellektuellen Niveau der Gruppe, das sie als soziale Bar
riere wahrnahm, sehr schwer. Über das Lernen der Sprache fand sie aber doch einigermaßen den An
schluss.
542 R
ADZILOVSKAJA
/O
RESTOVA
Katorga, S. 36.
543 P
LESKOV
V gody, S. 148, und P
LESKOV
„Vol’nyj universitet“, S. 167. Stützte man sich bei der Behand
lung
der
učeba in der Nerčinsker Katorga ausschließlich auf Pleskovs Ausführungen, gewänne man
den Eindruck, einzig in Gornyj Zerentuj sei intensiv studiert und unterrichtet worden.
544 P
LESKOV
„Vol’nyj universitet“, S. 166 und 169.
545 P
LESKOV
V gody, S. 148, und P
LESKOV
„Vol’nyj universitet“, S. 172.
546 P
LESKOV
„Vol’nyj universitet“, S. 171.
547 P
LESKOV
V gody, S. 149, und P
LESKOV
„Vol’nyj universitet“, S. 169; in die Ansiedlung entlassene
Sträflinge dienten als Korrespondenten. Vgl. auch T
AGAROV
Učeba, S. 79.
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