1.4. Quellen
19. Jahrhunderts die Sträflingskolonie Sachalin besucht und einen sehr kritischen Reise
bericht über das Verbannungssystem auf der Insel geschrieben; sein Fokus liegt aber auf
den kriminellen Sträflingen, weshalb er in dieser Studie nur am Rand berücksichtigt
wird.
44
Eine Quelle eigener Gattung stellt Anton Čechovs bereits erwähnter Reisebericht
„Ostrov Sachalin“
dar, der auf Čechovs mehrwöchigen Aufenthalt auf der fernöstlichen
Insel zum Studium der Verhältnisse der Zwangsarbeiter und Verbannten 1890 zurück
geht. Im Unterschied zu den Beobachtungen der übrigen außenstehenden Reisenden
changiert Čechovs eindrücklicher, in seiner knappen Sprache so sachlich scheinender
wie detaillierter Bericht zwischen Dokumentation und Literatur. Seine Verwendung als
historische Quelle ist daher besonders zu reflektieren. Dazu kommt, dass sich auch
Čechov – gezwungenermaßen – zur Hauptsache mit kriminellen Häftlingen beschäftig
te.
45
Eine Position zwischen Innen- und Außensicht aus russischer Warte stellen die Er
innerungen Alfred Graf Keyserlings dar. Dieser deutschbaltische, in St. Petersburg aus
gebildete Adlige stand Ende der 1880er Jahre im Dienst des Generalgouverneurs für das
Amur-Gebiet und war von diesem interimistisch mit der Verwaltung der Katorga-Ge
fängnisse im Kara-Tal betraut worden.
46
Sein farbig geschriebener, mit vielen Anekdo
ten zum Verbannungssystem und zu Sibirien insgesamt ausgeschmückter Bericht gibt
Aufschluss über Missstände in der Katorga der Kriminellen aus der Sicht eines im Ge
fängniswesen unerfahrenen, aber in leitender Position tätigen Beamten; die „Politi
schen“ waren ihm nicht zugeordnet.
Zu der doppelten Perspektive aus dem Innern der Katorga – durch die Erinnerungen
von Häftlingen und von Gefängnispersonal – und zum Blick von außen durch die Brille
des ausländischen oder russischen Reisenden und kommt ein vierter Quellenkomplex
hinzu: Rapporte von Gefängniskommandanten und Anweisungen von höheren Verwal
tungsstellen der Gefängnishauptverwaltung (
Glavnoe upravlenie tjur’my, GTU) oder
von regionalen Bevollmächtigten (Gouverneuren) sowie
Korrespondenzen zwischen den
einzelnen Positionen. Die in der Arbeit verwendeten Dokumente wurden Ende der
zwanziger und Anfang der dreißiger Jahre in die Sammelbände der Gesellschaft der ehe
maligen politischen Zwangsarbeiter und Verbannten aufgenommen. Für die Zeit bis zu
den achtziger Jahren existiert überdies ein vor rund zehn Jahren von Leonid M. Gor
juškin herausgegebener Dokumentenband zu Katorga und Ssylka.
Die Bände von „Katorga i ssylka“
finden sich in einer Reprint-Ausgabe von 1971 in
der Zentralbibliothek Zürich; allerdings fehlen die ersten und die letzten zwei Jahr
gänge. Auch „Russkoe bogatstvo“ liegt in einem Reprint vor. Die Sammelbände – „Ka
ra i drugie tjur’my Nerčinskoj katorgi“, „Nerčinskaja katorga „ und „Na ženskoj kator
ge“ – sowie der Band von Čemodanov (zwei Auflagen) entstammen den Beständen der
Staatsbibliothek Berlin.
44 D
OROŠEVIČ
Sachalin.
45 Zu Čechovs Sachalin-Buch als historischer Quelle vgl. T
HOMAS
„Die Insel Sachalin“, S. 149–158, wo
besonders auf die Zensur und Überwachung, vor allem hinsichtlich der Begegnung mit politischen
Verbannten, hingewiesen wird, die für die Beurteilung der literarischen Dokumentation zentral sind
(vgl. S. 152f.). Thomas plädiert für die Berücksichtigung des Werks als historische Quelle (S. 158),
sofern dessen Genese reflektiert wird.
46 Die 1937 auf Deutsch erschienenen Erinnerungen enthalten zuweilen Ungenauigkeiten; so werden
Gefängnisnamen verwechselt (Akatuj und Algači).
17
OSTEUROPA-INSTITUT MÜNCHEN
Mitteilung Nr. 56
1.5. Historiographiegeschichte und Forschungsstand
Die sowjetische Historiographie hat dem zarischen Verbannungssystem nicht geringe
Aufmerksamkeit geschenkt, allerdings in spezifischer Perspektive. In den
zwanziger und
frühen dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts beschäftigten sich vorwiegend
ehemalige Betroffene – Verbannte, Gefängnisinsassen, Zwangsarbeiter – aus dem Kreis
der Gesellschaft der ehemaligen politischen Zwangsarbeiter und Verbannten damit und
publizierten unter anderem in der von ihnen herausgegebenen, bereits erwähnten Zeit
schrift „Katorga i ssylka“
umfangreiche Studien, Erinnerungsberichte und Nekrologe
von Mithäftlingen. Durch den politischen Paradigmenwechsel im Stalinismus rückte die
Auseinandersetzung mit dem Thema in den Hintergrund.
47
Ab der zweiten Hälfte der
fünfziger und besonders ab den frühen siebziger Jahren kehrte das Interesse am Thema
zurück und es erschienen zahlreiche Sammelbände mit Beiträgen sowjetischer Histo
riker, die einzelne Facetten des Verbannungssystems behandelten.
48
Gemeinsam ist ih
nen, dass ihr Interesse praktisch ausschließlich den politischen Häftlingen galt und sie
die Geschichtsschreibung über das Verbannungssystem auf den Kontext des revolutio
nären Kampfs wider die Autokratie reduzieren.
49
Die Forschungen seit den siebziger
Jahren rückten vor allem die Ssylka
in den Vordergrund, welche die Katorga
bezüglich
des Umfangs um das Vielfache übertraf.
50
Die wichtigsten Exponenten der bolschewis
tischen Revolution hatten Jahre in der gewöhnlichen Verbannung und nicht in der
Zwangsarbeit verbracht; am bekanntesten ist zweifellos Lenins Aufenthalt am Oberlauf
47 Zur Entwicklung der Zeitschrift 1921 bis 1935 vgl. K
OLESNIKOVA
Memuaristika, S. 38–47. Die Zeit
schrift veröffentlichte neben Rezensionen, Memoiren und Forschungsaufsätzen auch Archivmateriali
en zur revolutionären Bewegung, vgl. K
RAMAROV
„Katorga i ssylka“, Sp. 124. Sie wurde im Zuge der
Auflösung der Gesellschaft 1935 aufgehoben; schon vorher verschwand sie aus den öffentlichen Bi
bliotheken, wie K
OLESNIKOVA
Memuaristika, S. 46f. und 63, berichtet, weil sie, einigermaßen pluralis
tisch ausgerichtet, Positionen vertreten hatte, die ab den frühen dreißiger Jahren nicht mehr akzeptiert
waren. Auch in der späteren sowjetischen Forschung wurde darauf verwiesen; so hält C
HASIACHMETOV
Sovetskaja istoriografija, S. 34, in seinem Aufsatz zur sowjetischen Historiographie über die sibi
rische politische Verbannung 1905–1917 fest, die Beiträge in „Katorga i ssylka“ zeugten von „bour
geoisem Objektivismus“ und „veralteten Ansichten“.
48 Leonid M. Gorjuškin betrieb in Novosibirsk im sibirischen Arm der Akademie der Wissenschaften
Forschungen zur Verbannung und gab verschiedene Sammelbände heraus; N. N. Ščerbakov
betreute
an der Staatlichen Universität Irkutsk die Reihe „Ssyl’nye revoljucionery v Sibiri (XIX v. – fevral’
1917 g.)“, in der bis 1990 zwölf dünne Bändchen mit Forschungsbeiträgen erschienen. Darüber hin
aus wurden zahlreiche Monographien publiziert. Einen Überblick über die sowjetische Historio
graphie zur sibirischen politischen Verbannung 1905–1917 gibt C
HASIACHMETOV
Sovetskaja istoriogra
fija, S. 31–49, zu den erwähnten Forschungsarbeiten bes. S. 39f.
49 Exemplarisch dafür ist die Einleitung zur ausführlichen Monographie zu Katorga
und Ssylka
von V.
N. Dvorjanov, in der ausgiebig Lenin zitiert wird, der die Vorbildrolle der Inhaftierten im Kampf ge
gen die Autokratie betont hatte. Dvorjanov fasst zusammen: „Das Studium des mannhaften Kampfs
der Revolutionäre an den Orten der Katorga
und Ssylka gegen die zarische Herrschaft dient als inspi
rierendes Beispiel für die Kommunisten und Demokraten vieler kapitalistischer Länder, deren reaktio
näre Regierende die Kämpfer für Frieden, Demokratie und Sozialismus Verfolgungen, Folter und
Strafen aussetzen.“, D
VORJANOV
V sibirskoj, S. 4.
50 Zu den Dimensionen und Konjunkturen der Katorga (und, in Abgrenzung dazu, der Ssylka) vgl. Kap.
3.1. (S. 35)
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