1.3. Methodisches
französischen Kontext Foucaults (bürgerliches Staatswesen) wesentlich unterscheidet.
28
Im Folgenden wird, stets unter der Prämisse der nicht leichtfertig möglichen Übertrag
barkeit der Modelle Foucaults, zuweilen auf Parallelen oder auf Foucaultsche Thesen
verwiesen, ohne dass diese aber der Arbeit zugrunde gelegt würden.
29
1.4. Quellen
Das Quellenkorpus dieser Arbeit besteht zur Hauptsache aus Erinnerungsberichten von
Personen, die in unterschiedlichen Umständen mit dem Verbannungssystem und beson
ders der politischen Zwangsarbeit in Ostsibirien und auf Sachalin in Berührung kamen –
als politische Häftlinge, als russische oder als ausländische Reisende. Bei der insgesamt
umfangreichsten und in dieser Studie am intensivsten bearbeiteten Quellengruppe han
delt es sich um Selbstzeugnisse ehemaliger politischer Katorga-Häftlinge und eines frü
heren Kommandanten verschiedener Katorga
-Gefängnisse. Eine Differenzierung und
Problematisierung drängt sich auf, weil die Forschungsgeschichte mit ihren stark ideolo
gischen Vorzeichen und die grundsätzliche Herausforderung, die Erinnerungstexte für
die historische Forschung darstellen, hier in besonderem Masse verschmelzen. Ein
großer Teil dieser Erfahrungsberichte aus der sibirischen und Sachaliner Katorga ist mit
Unterstützung der Gesellschaft der ehemaligen politischen Zwangsarbeiter und Ver
bannten zwischen 1921 und 1935 veröffentlicht worden, besonders zahlreich in deren
Zeitschrift „Katorga i ssylka“ sowie in gesondert herausgegebenen Sammelbänden, un
ter anderem zu Frauen in der Katorga. Die Autoren entstammen daher dem mit der Ge
sellschaft verbundenen Kreis linker Revolutionäre, der allerdings die anfänglich gegen
über linkem Pluralismus offenere sowjetische Politik der zwanziger Jahre wider
spiegelte.
30
Die Texte, die in diesem Kontext erschienen sind, atmen in besonderem
Masse den Duft ihrer Erscheinungszeit. Oft stellen sie die Fortführung des revolutio
nären Kampfs im Gefängnis ins Zentrum. Dadurch gelangen insbesondere Schilderun
gen von der Auflehnung gegen das Gefängnisregime zur Darstellung, was zu Verzer
rungen führt. Die Erinnerungen lassen sich aber nicht über einen Leisten schlagen; viele
Texte beschränken sich nicht nur auf markante Begebenheiten, sondern schildern den
Alltag in der Katorga und vermitteln dadurch ein insgesamt farbiges und nicht allein
von heroischem Kampf gezeichnetes Bild, das aufschlussreichen Einblick in das soziale
28 E
NGELSTEIN
Combined Underdevelopment, S. 344, 353 und 381. Auch D
ALY
Punishment, S. 362, hält
fest, dass im ausgehenden Zarenreich die Gesellschaft unfähig gewesen sei, disziplinierende Funk
tionen wahrzunehmen.
29 Zum Problem der Übertragbarkeit von Modellen auf Russland, die anhand westeuropäischer Gesell
schaften entwickelt wurden, vgl. H
ELMEDACH
Gewalt, S. 228, für Gewalt-, Modernisierungs- und Zi
vilisationskonzepte.
30 Larisa Kolesnikova hat 1999 systematische Untersuchungen zum Quellenkorpus von „Katorga i ssyl
ka“
durchgeführt und dabei auch die Entwicklung der Zeitschrift 1921 bis 1935 nachgezeichnet, vgl.
K
OLESNIKOVA
Memuaristika, S. 38–47. Zur Typologisierung und politischen Verortung der memoiris
tischen Quellen aus „Katorga i ssylka“ vgl. K
OLESNIKOVA
Memuaristika, S. 50–66, bes. 50f. und 63–
66. Die Zeitschrift räumte, ab den dreißiger Jahren gegen alle Widerstände und zuletzt erfolglos, den
Erinnerungsberichten
viel Platz ein, obwohl deren Subjektivität allseits gerügt wurde.
Die publizierten
Texte widerspiegeln deren Entstehungs- bzw. Publikationszeit, was stets zu berücksichtigen ist. Fer
ner weist Kolesnikova auf die oft mangelhaften Informationen über die Autoren und deren Parteizuge
hörigkeit hin; beides würde eine Verortung der Memoirentexte erleichtern.
13
OSTEUROPA-INSTITUT MÜNCHEN
Mitteilung Nr. 56
Gefüge und den Charakter des zarischen Zwangsarbeitssystems gibt. Quellenkritisch
problematisch ist der einseitige Hintergrund, vor dem die Texte geschrieben und veröf
fentlicht wurden, gleichwohl. Diese stehen im Spannungsfeld von individuellem und
„organisiertem“ Erinnern im Rahmen der Gesellschaft der ehemaligen politischen
Zwangsarbeiter und Verbannten bzw. ihrer Zeitschrift. Kritik wurde vor allem an den
„subjektiven“ Schilderungen der Texte geübt, und es ist anzunehmen, dass dies auch zu
redaktionellen Bearbeitungen der Beiträge geführt hat, deren Spuren verwischt sind.
31
Der Vorwurf der „Subjektivität“ steht im Zusammenhang mit der zunehmend rigideren
Kulturpolitik Ende der zwanziger Jahre und mit strengeren Maßstäben an die „objekti
ve“ marxistische Geschichtsschreibung. Er prägte während der folgenden Zeit die so
wjetische Auseinandersetzung mit den Memoirentexten zu Katorga und
Ssylka, wie die
neuere Untersuchung von Larisa Kolesnikova zum Quellenwert der „Katorga i
ssylka“-Erinnerungen zeigt, und wird bis heute, etwa bei Moškina, kritisiert.
32
Diese den
Texten inhärente „Subjektivität“ und tendenziöse Darstellung gilt es stets zu reflektieren
und zu problematisieren. Das Nebeneinanderstellen vergleichbarer Memoirentexte und
die Kontextualisierung mittels weiterer Quellengattungen und Forschungsliteratur ist
unabdingbar, besonders auch vor dem Hintergrund der Erinnerungs- und Selbstzeugnis
forschung.
33
Die „Subjektivität“ und die Kritik daran gewinnt aber dort eine zusätzliche pikante
Note, wo es in der Natur des Memoirentextes liegt, dass er eine andere Sichtweise dar
bringt als die von der Herausgebergesellschaft gepflegte: bei der Erinnerung des abkom
mandierten Armeeoffiziers, Kommandanten verschiedener Gefängnisbewa
chungseinheiten und interimistischen Gefängnisvorstehers Gennadij Čemodanov. Diese
einzigartige Quelle, die bisher noch nicht gebührend ausgewertet wurde, schildert aus
der Perspektive der Gefängnisobrigkeit die Zustände in verschiedenen Katorga-Gefäng
nissen im Kreis Nerčinsk zwischen 1908 und 1914. Im Vorwort zu dem Band, der eben
falls in der Reihe der Gesellschaft der ehemaligen politische Zwangsarbeiter und Ver
31 Vgl. das Vorwort der Herausgeber im Sammelband „Nerčinskaja katorga“, Ot sostavitelej, S. 6, wo
von einer „kollektiven Methode der Überarbeitung“ die Rede ist.
32 K
OLESNIKOVA
Memuaristika, S. 14–18. Sie verweist auf die Marginalisierung des Individuellen im auf
kommenden Stalinismus, in deren Folge auch die Memoirenliteratur für mindestens zwei Dekaden
verpönt war, nachdem sie sich in den zwanziger Jahren großer Beliebtheit erfreut hatte. Als eine Spe
zifik der sowjetischen Memoiren dieser Zeit gilt nach Ansicht Kolesnikovas
der analytische Stil dieser
Texte, der die Grenzen zwischen Erinnerung und Forschungsliteratur verwischt habe, vgl. ebd. S. 14.
Kolesnikovas Studie ist ein wertvoller Beitrag zur quellenkritischen Auseinandersetzung mit den Be
ständen der Zeitschrift „Katorga i ssylka“. Vgl. auch die Bemerkung im Eintrag in der Sovetskaja is
toričeskaja ėnciklopedija zur Zeitschrift, K
RAMAROV
„Katorga i ssylka“, Sp. 124, wo auf „subjektive
Bewertungen“ und „faktische Fehler“ hingewiesen wird, ohne aber den Quellenwert der Beiträge
grundsätzlich in Frage zu stellen.
Zur heutigen Forschung M
OŠKINA
Katorga, S. 11.
33 Zur Erinnerungs- und Selbstzeugnisforschung ist die Literatur mittlerweile äußerst zahlreich. Einen
konzisen Überblick über die Problematik des Erinnerns und dessen Selektivität, Veränderung und
Kontextgebundenheit gibt W
ELZER
Gedächtnis, S. 155–174. Eine Kategorisierung von Selbstzeug
nissen nimmt K
RUSENSTJERN
Selbstzeugnisse, S. 462–471, anhand des 17. Jahrhunderts vor. Für die
vorliegenden Erinnerungstexte passt die von Jochen Hellbeck und Klaus Heller für Russland bzw. die
Sowjetunion geprägte Begrifflichkeit der „autobiographischen Praxis“ gut, vgl. H
ELLBECK
Introductio
n, S. 11–24, bes. S. 12f. Zum Umgang mit autobiographischen Texten und zu deren Quellenwert für
soziale und materielle Verhältnisse und kulturelle Praktiken vgl. S
TEPHAN
Leben, bes. S. 10–13.
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