1.1. Zum Thema
spezifischen Bedeutung verwendet, also als Bezeichnung für „Verbannung“ und nicht
für das gesamte Verbannungssystem, und als Fremdwort behandelt (Schreibweise: Ssyl
ka).
9
Eine besondere Form der Verbannung stellte die Zwangsarbeit – russisch
katorga
10
– dar als „Verbannung zur Zwangsarbeit“ (
ssylka na katorgu).
11
Die Bezeichnung
kat
orga ist seit Zar Peter I. für die Zwangsarbeit im Russischen Reich gängig; auch
kat
orga wird im Folgenden als Fremdwort behandelt (Schreibweise: Katorga). Diese sah,
nach der Verbüßung der Zwangsarbeitsstrafe in einem speziell dafür vorgesehenen Ge
fängnis, zumeist lebenslängliche Ansiedlung in Sibirien vor.
Mit der Katorga als Teil des zarischen Verbannungssystems beschäftigt sich diese
Arbeit, und zwar in erster Linie mit jenen Sträflingen, die aus politischen Gründen zur
Zwangsarbeit verurteilt worden waren. Die Häftlingsgesellschaft der Katorga lässt sich
jedoch nicht strikt in politische und kriminelle Häftlinge trennen, weil sich die „Poli
tischen“
12
gegenüber den Kriminellen in deutlicher Unterzahl befanden und die Interfe
renzen zwischen den Häftlingsgruppen bedeutsam waren. Um die politische Katorga
verständlich zu machen, soll, auch in Abgrenzung zur traditionellen Forschung, der ge
meinsame soziale Raum betrachtet werden. Für einen Katorga-Häftling gibt es im Rus
sischen zwei Begriffe, die in der Forschung zuweilen synonym verwendet werden, sich
aber semantisch voneinander unterscheiden:
katoržanin (Pl.
katoržane) bezeichnet einen
politischen Sträfling (zuweilen auch:
politkatoržanin),
katoržnik (Pl.
katoržniki) einen
kriminellen. Für einen solchen wird auch der allgemeine Begriff
ugolovnyj (Krimineller,
pl.
ugolovnye) verwendet.
13
Mit der Fokussierung auf die „Politischen“ geht eine geographische Eingrenzung ein
her. Der Schwerpunkt der politischen Zwangsarbeit im ausgehenden Zarenreich lag in
Ostsibirien, im Katorga-Zentralgefängnis von Aleksandrovsk bei Irkutsk und jenseits
des Baikalsees im Kreis Nerčinsk des Gouvernements Čita, hart an der Grenze zu Chi
9
Vgl. entsprechend den Eintrag
ssylka in der Bol’šaja sovetskaja ėnciklopedija (E
ROŠKIN
Ssylka, S.
387). Der Begriff
ssylka umfasst verschiedene Formen der Verbannung; vgl. dazu die Ausführungen
im Kap. 3.1. zur Organisation des Verbannungssystems.
10 Etymologisch leitet sich der Begriff vom griechischen Wort το κάτεργον (bzw. im Plural τα κάτεργα)
ab, der byzantinischen Bezeichnung für Ruderschiff bzw. Galeere. In grosser Zahl wurden Zwangs
arbeiter bei der Erbauung St. Petersburgs eingesetzt. Vgl. E
ROŠKIN
Katorga, S. 536, und weitere Aus
führungen Kap. 3.1 (S. 35).
11 Die Doppeldeutigkeit des Begriffs Ssylka
kommt in der Definition der Bol’šaja sovetskaja ėnciklope
dija unter dem Stichwort
„ssylka političeskaja“ („politische Verbannung“) zum Ausdruck, vgl. E
ROŠ
KIN
Ssylka političeskaja, S. 387: „Politische Verbannung in Russland, erzwungene Entfernung von
Personen, die sich politischer Vergehen schuldig gemacht haben, auf gerichtlichem oder administra
tivem Weg an einen entfernten Ort zur Ansiedlung für eine bestimmte Dauer oder unbefristet oder in
die Katorga.“ Diese Definition gilt im Prinzip auch für gewöhnliche kriminelle Straftäter.
12 Die Bezeichnung „Politische“
(političeskie) wird in dieser Arbeit stets in Anführungszeichen gesetzt,
um zum despektierlichen Beigeschmack der Benennung Distanz zu markieren. Es handelt sich aber
um eine in den Quellen und der Forschung oft verwendete Bezeichnung.
13 D
ALY
Political Crime, S. 85, Anm. 97, verweist auf den semantischen Unterschied. Bei Kennan und
zum Teil in der westlichsprachigen Forschungsliteratur wird generell
katoržnik verwendet, in der rus
sischsprachigen Forschung
katoržanin, mitunter auch
politkatoržanin oder die geschlechtsneutrale
Pluralform
katoržnye.
7
OSTEUROPA-INSTITUT MÜNCHEN
Mitteilung Nr. 56
na, sowie auf der fernöstlichen Insel Sachalin. Ostsibirien und Sachalin stehen daher im
Vordergrund der Untersuchung.
14
Der untersuchte Zeitraum schließlich reicht vom letzten Drittel des 19. Jahrhunderts
bis zur Aufhebung des Verbannungssystems im Frühjahr 1917 nach dem Sturz des za
rischen Regimes, wobei das Schwergewicht auf der Zeit zwischen 1880 und 1917 liegt.
Die Zeit zwischen den „Großen Reformen“ des Zaren Alexander II., die mit der Aufhe
bung der Leibeigenschaft 1861 einsetzten, in der Justizreform von 1864 einen Höhe
punkt erreichten und auch das Straf- und Gefängnissystem betrafen, und dem Zu
sammenbruch des Ancien Régime war geprägt von der Modernisierung der Ordnung auf
allen Ebenen. Jene entwickelte vor allem im ökonomischen und sozialen Sektor unge
heure Sprengkraft in einer Gesellschaft, die sich durch die Extreme von Stadt und Land,
gebildeter Elite und Masse der Industriearbeiter und Bauern in ihren je eigenen zeitli
chen und räumlichen Welten auszeichnete und die im autokratischen Staat in ihrer poli
tischen und sozialen Entfaltung sehr stark behindert war.
15
Die sich ab den sechziger
Jahren formierende, revolutionär gesinnte Opposition bewegte sich in diesem Span
nungsfeld, das sich in der Revolution von 1905 und mit dem Sturz des Zaren 1917 ent
lud. Die Reformbestrebungen, die Debatte und die politischen Entwicklungen fanden
vor einem westeuropäischen Horizont statt.
16
In diesem Kontext bewegt sich das Ver
bannungssystem; Wechselwirkungen zwischen den Ereignissen der spannungsgeladenen
Umbruchszeit und der Katorga in Sibirien sind evident. Die Geschichte der Katorga
trägt vielerlei Züge: Züge einer Geschichte der Gewalt und der Disziplinierung, des
Straf- und Gefängniswesens, der politischen Auflehnung und Unterdrückung im auto
kratischen Staat, aber sie kann auch als eine Geschichte des imperialen Russland und
seiner Gebiete jenseits des Urals: Sibiriens, des Fernen Ostens, Sachalins, gelesen wer
den.
17
Und sie gibt, nicht nur symbolisch auf dem Petersburger Troickij-Platz, zum
14 Zu den Orten der Katorga in Ostsibirien vgl. Kap. 3 (S. 35) und 4 (S. 63) und die Karten im Anhang
S. 159
15 Die lebensweltlichen Veränderungen in Russland 1880 bis 1914 schildert ausführlich C
ARSTEN
G
OEHR
KE
vgl. G
OEHRKE
Alltag 2, S. 169–414.
16 Vgl. dazu die Bemerkungen von K
OTSONIS
Introduction, S. 1–4, der die russische Entwicklung ab dem
letzten Drittel des 19. Jahrhunderts in den größeren Zusammenhang der europäischen Moderne stellt.
Die für die russische Geschichte in diesem Zeitraum bestimmenden Jahrzahlen 1861, 1905, 1917 (so
wie, als Ende des Spannungsbogens der Moderne, 1929) versteht er weniger als Brüche denn als
Marksteine, denen je nach Ausgangspunkt und Thematik der Auseinandersetzung mit der Geschichte
unterschiedliche Bedeutung zukommt. Man müsste, zusätzlich zu 1861, auch 1864 als das Jahr der
Justizreform in die Reihe aufnehmen.
17 Zu Sibirien im Verhältnis zu Russland vgl. G
OEHRKE
Das „andere Russland“, S. 123–150, zum Ver
bannungssystem bes. S. 135–141, B
ASSIN
Imperialer Raum, S. 378–403, zum Verbannungssystem bes.
S. 384–387, W
OOD
Introduction, S. 1–16, zum Verbannungssystem bes. 6f. und 11, sowie
die posthum
veröffentlichte Studie von Otto Hoetzsch zu Russland und Asien, vgl. H
OETZSCH
Russland, S. 50–65
(zu Sibirien). Auch S
TEPHAN
Far East, S. 68–70, geht in seiner grundlegenden regionalen Studie kurz
auf das Verbannungssystem ein, allerdings sehr undifferenziert. S
TOLBERG
Raumerschließungspro
zesse, S. 315f., beklagt das Fehlen sozial- und kulturgeschichtlicher Arbeiten zur Erschließung Sibiri
ens; vgl. auch S
TOLBERG
Pazifik, S. 293f. und 300f. Zeitgenössisch zu Sibirien als Kolonie u.a. J
ADRIN
CEV
Sibir’, zum Verbannungssystem bes. S. 171–227, und S
TOLYPIN
/K
RIWOSCHEÏN
Kolonisation (eine
Denkschrift im Zusammenhang mit den Umsiedlungsvorhaben der Regierung Stolypin). Zum Kolo
nialismusdiskurs des ausgehenden
Zarenreichs auch S
UNDERLAND
Colonization
Question, S. 210–232.
8