1.2. Fragestellung und Aufbau
siert werden konnte, hat die Beschäftigung mit den Gulag-Forschungen und -Erinne
rungen Spuren hinterlassen; indem sie konzeptionell inspirierend war (besonders Anne
Applebaums
opus magnum) oder, wo es wertvoll und treffend schien, zu einem Seiten
blick auf die Lagerwelten des 20. Jahrhunderts anregte. Mehr als Gedankenanstöße las
sen sich daraus aber nicht ableiten.
20
1.3. Methodisches
Der Behandlung der Katorga im ausgehenden Zarenreich fehlte bisher das, was App
lebaum im zweiten Teil ihres Buches für die sowjetischen Lager unternommen hat: den
Alltag, die Lebenswelt des Lagers systematisch nachzuzeichnen, um Aufschluss über
den Charakter, die Funktion, die Haftbedingungen zu erlangen.
21
Ziel dieser Arbeit ist
es, mit Hilfe der thematischen Querschnitte, vor dem Hintergrund des Spannungsfelds
im ausgehenden Zarenreich, ein Panorama der Lebenswelten in der Katorga zu entwer
fen,
22
als Versuch einer facettenreichen, bewusst detailgenauen, mikrohistorisch inspi
rierten Darstellung und Analyse des Alltags, um die Häftlingsgesellschaft, die In
teraktion zwischen ihr und der Verwaltung und dadurch letztlich die Haftbedingungen
zu rekonstruieren und auf diese Weise das Thema neu anzugehen.
23
Wenn dabei die Le
benswelten der politischen Häftlinge im Vordergrund stehen, ist das auch dem Quellen
korpus geschuldet, für das zu einem großen Teil auf Erinnerungsberichte zu
rückgegriffen wurde. Delinquenten mit kriminellem Hintergrund haben kaum schriftli
che Zeugnisse hinterlassen.
20 Von der neueren Gulag-Forschung, auf die mehrfach verwiesen werden wird, stechen, neben Anne
Applebaums Monographie, die im folgenden in ihrer englischen Originalfassung zitiert wird (A
PP
LEBAUM
Gulag), besonders der große Photoband von Tomasz Kizny (K
IZNY
Goulag; ebenfalls in der
französischen Originalausgabe zitiert) sowie Meinhard Starks Buch über Frauenschicksale im Gulag
(S
TARK
Frauen) heraus.
21 Unter dem Titel „Life and Work in the Camps“, vgl. A
PPLEBAUM
Gulag, S. 121–408.
22 Für H
AUMANN
Geschichtsschreibung, S. 114f., steht im lebensweltlich orientierten Zugang zur Erfor
schung der Geschichte der „Mensch in seinen Verhältnissen“ im Mittelpunkt, wobei die individuelle
Wahrnehmung und Erfahrung stets in Bezug gesetzt ist zu anderen Menschen. „Bei einer solchen Per
spektive besteht kein Gegensatz zwischen individueller Lebenswelt und gesellschaftlicher Struktur,
zwischen
Mikro- und Makro-Geschichte, sondern die Lebenswelt bildet gleichsam die Schnittstelle, in
der sich Individuum und System bündeln.“ V
IERHAUS
Rekonstruktion, S. 13, definiert so: „Mit dem
Begriff ‚Lebenswelt‘ ist die – mehr oder weniger – wahrgenommene Wirklichkeit gemeint, in der so
ziale Gruppen und Individuen sich verhalten und durch ihr Denken und Handeln wiederum Wirklich
keit produzieren.“, bzw. ebd., S. 14: „Lebenswelt ist raum- und zeitbedingte soziale Wirklichkeit.“
Diese ist aber nicht in sich abgeschlossen und unwandelbar, wie er ebd., S. 18, präzisiert. Im Folgen
den wird gleichwohl gelegentlich zwischen Mikro- und Makro-Ebene unterschieden, ohne in diesen
einen Gegensatz sehen zu wollen, sondern im Sinne von Rudolf Vierhaus’ Definition der kulturhisto
rischen Forschung, die „gleichsam vom Punktuellen zum Allgemeineren, vom Detail zum Ganzen“
gehe, V
IERHAUS
Rekonstruktion, S. 23.
23 M
EDICK
Mikrohistorie, S. 217, schreibt: „Ein entscheidender Erkenntnisgewinn durch mikrohisto
rische Verfahren besteht darin, Handlungsbedingungen, Handlungen und Deutungen der Menschen
ausgehend von einzelnen Personen und ihren wechselseitigen Verflechtungen und Abhängigkeiten zu
untersuchen.“ Er spricht auch von einer „experimentelle[n] Untersuchung sozialer Beziehungsnetze
und menschlicher Verhaltensweisen“, was im vorliegenden Fall in der Extremsituation des Gefäng
nisses (Häftlingsgesellschaft, Obrigkeit) stattfindet.
11