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Von dem christlichen Kolonialsystem sagt ein Mann, der aus dem Christentum eine Spezialität macht, W.
Howitt:
"Die Barbareien und ruchlosen Greueltaten der sog. christlichen Racen, in jeder Region der Welt und
gegen jedes Volk, das sie unterjochen konnten, finden keine Parallele in irgendeiner Ära der Weltge-
schichte, bei irgendeiner Race, ob noch so wild und ungebildet, mitleidlos und schamlos."
Die Geschichte der holländischen Kolonialwirtschaft – und Holland war die kapitalistische Musternation
des 17. Jahrhunderts – "entrollt ein unübertreffbares Gemälde von Verrat, Bestechung, Meuchelmord und
Nieder- <780> tracht". Nichts charakteristischer als ihr System des Menschendiebstahls in Celebes, um
Sklaven für Java zu erhalten. Die Menschenstehler wurden zu diesem Zweck abgerichtet. Der Dieb, der
Dolmetscher und der Verkäufer waren die Hauptagenten in diesem Handel, eingeborne Prinzen die
Hauptverkäufer. Die weggestohlne Jugend wurde in den Geheimgefängnissen von Celebes versteckt, bis
reif zur Verschickung auf die Sklavenschiffe. Ein offizieller Bericht sagt:
"Diese eine Stadt von Makassar z.B. ist voll von geheimen Gefängnissen, eins schauderhafter als das
andre, gepfropft mit Elenden, Opfern der Habsucht und Tyrannei, in Ketten gefesselt, ihren Familien ge-
waltsam entrissen."
Um sich Malakkas zu bemächtigen, bestachen die Holländer den portugiesischen Gouverneur. Er ließ sie
1641 in die Stadt ein. Sie eilten sofort zu seinem Hause und meuchelmordeten ihn, um auf die Zahlung
der Bestechungssumme von 21.875 Pfd. St. zu "entsagen". Wo sie die Füße hinsetzten, folgte Verödung
und Entvölkerung. Banjuwangi, eine Provinz von Java, zählte 1750 über 80.000 Einwohner, 1811 nur
noch 8.000. Das ist der doux commerce !
Die Englisch-Ostindische Kompanie erhielt bekanntlich, außer der politischen Herrschaft in Ostindien,
das ausschließliche Monopol des Teehandels wie des chinesischen Handels überhaupt und des Güter-
transports von und nach Europa. Aber die Küstenschiffahrt von Indien und zwischen den Inseln wie der
Handel im Innern Indiens wurden Monopol der höhern Beamten der Kompanie. Die Monopole von Salz,
Opium, Betel und andren Waren waren unerschöpfliche Minen des Reichtums. Die Beamten selbst setz-
ten die Preise fest und schanden nach Belieben den unglücklichen Hindu. Der Generalgouverneur nahm
teil an diesem Privathandel. Seine Günstlinge erhielten Kontrakte unter Bedingungen, wodurch sie, klüger
als die Alchimisten, aus nichts Gold machten. Große Vermögen sprangen wie die Pilze an einem Tage
auf, die ursprüngliche Akkumulation ging vonstatten ohne Vorschuß eines Schillings. Die gerichtliche
Verfolgung des Warren Hastings wimmelt von solchen Beispielen. Hier ein Fall. Ein Opiumkontrakt wird
einem gewissen Sullivan zugeteilt, im Augenblick seiner Abreise – in öffentlichem Auftrage – nach ei-
nem von den Opiumdistrikten ganz entlegnen Teil Indiens. Sullivan verkauft seinen Kontrakt für 40 000
Pfd.St. an einen ge- <781> wissen Binn, Binn verkauft ihn denselben Tag für 60.000 Pfd.St., und der
schließliche Käufer und Ausführer des Kontrakts erklärt, daß er hinterher noch einen ungeheuren Gewinn
herausschlug. Nach einer dem Parlament vorgelegten Liste ließen sich die Kompanie und ihre Beamten
von 1757 bis 1766 von den Indiern 6 Millionen Pfd.St. schenken! Zwischen 1769 und 1770 fabrizierten
die Engländer eine Hungersnot durch den Aufkauf von allem Reis und durch Weigerung des Wiederver-
kaufs außer zu fabelhaften Preisen.
Die Behandlung der Eingebornen war natürlich am tollsten in den nur zum Exporthandel bestimmten
Pflanzungen, wie Westindien, und in den dem Raubmord preisgegebenen reichen und dichtbevölkerten
Ländern, wie Mexiko und Ostindien. Jedoch auch in den eigentlichen Kolonien verleugnete sich der
christliche Charakter der ursprünglichen Akkumulation nicht. Jene nüchternen Virtuosen des Protestan-
tismus, die Puritaner Neu-Englands, setzten 1703 durch Beschlüsse ihrer Assembly eine Prämie von 40
Pfd.St. auf jedes indianische Skalp und jede gefangne Rothaut, 1720 Prämie von 100 Pfd.St. auf jedes
Skalp, 1744, nachdem Massachusetts-Bay einen gewissen Stamm zum Rebellen erklärt hatte, folgende
Preise: für männliches Skalp, 12 Jahre und darüber, 100 Pfd.St. neuer Währung, für männliche Gefangne
105 Pfd.St., für gefangne Weiber und Kinder 50 Pfd.St., für Skalps von Weibern und Kindern 50 Pfd. St.!
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Einige Dezennien später rächte sich das Kolonialsystem an der unterdes aufrührerisch gewordnen Nach-
kommenschaft der frommen pilgrim fathers. Unter englischem Antrieb und Sold wurden sie tomahawked.
Das britische Parlament erklärte Bluthunde und Skalpieren für "Mittel, welche Gott und die Natur in seine
Hand gegeben".
Das Kolonialsystem reifte treibhausmäßig Handel und Schiffahrt. Die "Gesellschaften Monopolia" (Lu-
ther) waren gewaltige Hebel der Kapital-Konzentration. Den aufschießenden Manufakturen sicherte die
Kolonie Absatzmarkt und eine durch das Marktmonopol potenzierte Akkumulation. Der außerhalb Euro-
pa direkt durch Plünderung, Versklavung und Raubmord erbeutete Schatz floß ins Mutterland zurück und
verwandelte sich hier in Kapital. Holland, welches das Kolonialsystem zuerst völlig entwickelte, stand
schon 1648 im Brennpunkt seiner Handelsgröße. Es war
"in fast ausschließlichem Besitz des ostindischen Handels und des Verkehrs zwischen dem europäischen
Südwesten und Nordosten. Seine Fischereien, Seewesen, Manufak- <782> turen übertrafen die eines je-
den andren Landes. Die Kapitalien der Republik waren vielleicht bedeutender als die des übrigen Europa
insgesamt."
Gülich vergißt hinzuzusetzen: Hollands Volksmasse war schon 1648 mehr überarbeitet, verarmter und
brutaler unterdrückt als die des übrigen Europas insgesamt.
Heutzutage führt industrielle Suprematie die Handelssuprematie mit sich. In der eigentlichen Manufak-
turperiode dagegen ist es die Handelssuprematie, die die industrielle Vorherrschaft gibt. Daher die vor-
wiegende Rolle, die das Kolonialsystem damals spielte. Es war "der fremde Gott", der sich neben die
alten Götzen Europas auf den Altar stellte und sie eines schönen Tages mit einem Schub und Bautz sämt-
lich über den Haufen warf. Es proklamierte die Plusmacherei als letzten und einzigen Zweck der Mensch-
heit.
Das System des öffentlichen Kredits, d.h. der Staatsschulden, dessen Ursprünge wir in Genua und Vene-
dig
schon im Mittelalter entdecken, nahm Besitz von ganz Europa während der Manufakturperiode. Das
Kolonialsystem mit seinem Seehandel und seinen Handelskriegen diente ihm als Treibhaus. So setzte es
sich zuerst in Holland fest. Die Staatsschuld, d.h. die Veräußerung des Staats – ob despotisch, konstitu-
tionell oder republikanisch – drückt der kapitalistischen Ära ihren Stempel auf. Der einzige Teil des soge-
nannten Nationalreichtums, der wirklich in den Gesamtbesitz der modernen Völker eingeht, ist – ihre
Staatsschuld. Daher ganz konsequent die moderne Doktrin, daß ein Volk um so reicher wird, je tiefer es
sich verschuldet. Der öffentliche Kredit wird zum Credo des Kapitals. Und mit dem Entstehen der Staats-
verschuldung tritt an die Stelle der Sünde gegen den heiligen Geist, für die keine Verzeihung ist, der
Treubruch an der Staatsschuld.
Die öffentliche Schuld wird einer der energischsten Hebel der ursprünglichen Akkumulation. Wie mit
dem Schlag der Wünschelrute begabt sie das unproduktive Geld mit Zeugungskraft und verwandelt es so
in Kapital, ohne daß es dazu nötig hätte, sich der von industrieller und selbst wucherischer Anlage unzer-
trennlichen Mühwaltung und Gefahr auszusetzen. Die Staatsgläubiger geben in Wirklichkeit nichts, denn
die geliehene Summe wird in öffentliche leicht übertragbare Schuldscheine verwandelt, die in <783>
ihren Händen fortfungieren, ganz als wären sie ebensoviel Bargeld. Aber auch abgesehn von der so ge-
schaffnen Klasse müßiger Rentner und von dem improvisierten Reichtum der zwischen Regierung und
Nation die Mittler spielenden Finanziers – wie auch von dem der Steuerpächter, Kaufleute, Privatfabri-
kanten, denen ein gut Stück jeder Staatsanleihe den Dienst eines vom Himmel gefallenen Kapitals leistet
– hat die Staatsschuld die Aktiengesellschaften, den Handel mit negoziablen Effekten aller Art, die Agio-
tage emporgebracht, in einem Wort: das Börsenspiel und die moderne Bankokratie.
Von ihrer Geburt an waren die mit nationalen Titeln aufgestutzten großen Banken nur Gesellschaften von
Privatspekulanten, die sich den Regierungen an die Seite stellten und, dank den erhaltnen Privilegien,
ihnen Geld vorzuschießen imstande waren. Daher hat die Akkumulation der Staatsschuld keinen unfehl-