D
AS
K
APITAL
B
AND
1
Karl Marx, Friedrich Engels
4
Auf dem Gebiete der politische Ökonomie begegnet die freie wissenschaftliche Forschung nicht nur dem-
selben Feinde wie auf allen anderen Gebieten. Die eigentümliche Natur des Stoffes, den sie behandelt,
ruft wider sie die heftigsten, kleinlichsten und gehässigsen Leidenschaften der menschlichen Brust, die
Furein des Privatinteresses, auf den Kampfplatz. Die englische Hochkirche z.B. verzeiht eher den Angriff
auf 38 von ihren 39 Glaubensartikeln als auf 1/39 ihres Geldeinkommens. Heutzutage ist der Atheismus
selbst eine culpa levis[1*], verglichen mit der Kritik überlieferter Eigentumsverhälatnisse. Jedoch ist hier
ein Fortschritt unverkennbar. Ich verweise z.B. auf das in den letzten Wochen veröffentlichte Blaubuch:
"Correspondence with Her Majesty's Missions Abroad, regarding Industrial Questions and Trades Uni-
ons". Die auswärtigen Vertreter der englischen Krone sprechen es hier mit dürren Worten aus, daß in
Deutschland, Frankreich, kurz allen Kulturstaaten des europäischen Kontinents, eine Umwandlung der
bestehenden Verhältnisse von Kapital und Arbeit ebenso fühlbar und ebenso unvermeidlich ist als in
England. Gleichzeitig erklärte jenseits des Atlantischen Ozeans Herr Wade, Vizepräsident der Vereinig-
ten Staaten von Nordamerika, in öffentlichen Meetings : Nach Beseitigung der Sklaverei trete die Um-
wandlung der Kapital- und Grundeigentumsverhältnisse auf die Tagesordnung! Es sind dies Zeichen der
Zeit, die sich nicht verstecken lassen durch Purpurmäntel oder schwarze Kutten. Sie bedeuten nicht, daß
morgen Wunder geschehen werden. Sie zeigen, wie selbst in den herrschenden Klassen die Ahnung auf-
dämmert, daß die jetzige Gesellschaft kein fester Kristall, sondern ein umwandlungsfähiger und beständig
im Prozeß der Umwandlung begriffener Organismus ist.
[1*] kleine Sünde
{17}
Der zweite Band dieser Schrift wird den Zirkulationsprozeß des Kapitals (Buch II) und die Gestaltungen
des Gesamtprozesses (Buch III), der abschließende dritte (Buch IV) die Geschichte der Theorie behan-
deln.
Jedes Urteil wissenschaftlicher Kritik ist mir willkommen. Gegenüber den Vorurteilen der sog. öffentli-
chen Meinung, der ich nie Konzessionen gemacht habe, gilt mir nach wie vor der Wahlspruch des großen
Florentiners:
Segui il tuo corso, e lascia dir le genti!
London, 25. Juli I867
Karl Marx
D
AS
K
APITAL
B
AND
1
Karl Marx, Friedrich Engels
5
Nachwort zur zweiten Auflage
Den Lesern der ersten Ausgabe habe ich zunächst Ausweis zu geben über die in der zweiten Ausgabe
gemachten Veränderungen. Die übersichtlichere Einteilung des Buchs springt ins Auge. Zusätzliche No-
ten sind überall als Noten zur zweiten Ausgabe bezeichnet. Mit Bezug auf den Text selbst ist das Wich-
tigste:
Kapitel I, 1 ist die Ableitung des Werts durch Analyse der Gleichungen, worin sich jeder Tauschwert
ausdrückt, wissenschaftlich strenger durchgeführt, ebenso der in der ersten Ausgabe nur angedeutete zu-
sammenhang zwischen der Wertsubtanz und der Bestimmung der Wertgröße durch gesellschaftlich-
notwendige Arbeitszeit auddrücklich hervorgehoben. Kapitel I, 3 (Die Wertform) ist gänzlich umgear-
beitet, was schon die doppelte Darstellung der ersten Ausgabe gebot. -Im Vorbeigehn bemerke ich, daß
jene doppelte Darstellung durch meinen Freund, Dr. L. Kugelmann in Hannover, veranlaßt ward. Ich
befand mich bei ihm zum Besuch im Frühling 1867, als die ersten Probebogen von Hamburg ankamen,
und er überzeugte mich, daß für die meisten Leser eine nachträgliche, mehr didaktische Auseinanderset-
zung der Wetform nötig sei. -Der letzte Abschnitt des ersten Kapitels, "Der Fetischcharakter der Ware
etc.", ist großenteils verändert. Kapitel III, (Maß der Werte)ist sorgfältig revidierrt, weil dieser Abschnitt
in der ersten Ausgabe, mit Hinweis auf die "Zur Kritik der Polit. Oek.", Berlin 1859, bereits gegebne
Auseinandersetzung, nachlässig behandelt war. Kpitel VII, besonders Teil 2, ist bedeutend umgearbeitet.
Es wäre nutzlos, auf die stellenweisen Textänderungen, oft nur stilistisch, im einzelnen einzugehn. Sie
erstrecken sich über das ganze Buch. Dennoch finde ich jetzt bei Revision der zu Paris erscheinenden
französischen Übersetzung, daß manche Teile des deutschen Originals hier mehr durchgreifende Umar-
beitung, dort größere stilistische Korrektur oder auch sorgfältigere Beseitigung gelegentlicher Versehn
erheischt hätten. Es fehlte
{19}
dazu
die Zeit, indem ich erst im Herbst 1871, mitten unter andren dringenden Arbeiten die Nachricht er-
hielt, daß das Buch vergriffen sei, der Druck der zweiten Ausgabe aber bereits im Januar 1872 beginnen
sollte.
Das Verständnis, welches "Das Kapital" rasch weiten Kreisen der deutschen Arbeiterklasse fand, ist der
beste Lohn meiner Arbeit. Ein Mann, ökonomisch auf dem Bourgeoisstandpunkt, Herr Mayer, Wiener
Fabrikant, tat in einer während des deutsch-französischen Kriegs veröffentllichten Broschüre treffend dar,
daß der große thoretixche Sinn, der als deutsches Erbgut galt, den sog. gebildeten Klassen Deutschlands
durchaus abhanden gekommen ist, dagegen in seiner Arbeiterklasse neu auflebt.
Die politische Ökonomie blieb in Deutschland bis zu dieser Stunde eine ausländische Wissenshaft. Gu-
stav von Gülich hat in "Geschichtliche Darstellung des Handels, der Gewerbe usw.", namentlich in den
1830 herausgegebnen zwei ersten Bänden seines Wekes, großenteils schon die historischen Umstände
erörtert, welche die Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise bei uns hemmten, daher auch den
Aufbau der modernen bürgerlichen Gesellschaft. Es fehlte also der lebendige Boden der politischen Öko-
nomie. Sie ward als fertige Ware importiert aus England und Frankreich; ihre deutschen Professoren blie-
ben Schüler. Der thoretische Ausdruck einer fremden Wirklichkeit verwandelte sich unter ihrer Hand in
eine Dogmensammllung, von ihnen gedeutet im Sinn der sie umgebenden kleinbürgerlichen Welt, also
mißdeutet. Das nicht ganz unterdrückbare Gefühl wissenschaftlicher Ohnmacht und das unheimliche Ge-
wissen, auf einem in der Tat fremdartigen Gebiet schlmeistern zu müssen, suchte man zu verstecken unter
dem Prunk literarhistorischer Gehorsamkeit oder durch Beimischung fremden Stoffes, entlehnt den sog.
Kameralwissenschaften, einem Mischmasch von Kenntnissen, deren Fegfeuer der hoffnungsvolle[1*]
Kandidat deutscher Bürokratie zu bestehn hat.
Seit 1848 hat sich die kapitalistische Produktion rasch in Deutschland entwickelt und treibt heutzutage
bereits ihre Schwindelblüte. Aber unsren Fachleuten blieb das Geschick gleich abbhold. Solange sie poli-