14
denen beispielsweise auch Mütter Familie und Beruf verbinden dürfen, zu den
Spitzenrängen der Religionsgemeinschaften, deren Mitglieder bereits mehrheitlich in
der Schweiz geboren wurden.
In einer Vielzahl deutscher und nationaler Studien, aber auch international ist der
Religion-Demografie-Zusammenhang längst nachweisbar. Im Folgenden seien
beispielsweise Ergebnisse von Dominik Enste vom Institut der deutschen Wirtschaft
Köln dargestellt, die dieser aufgrund deutscher und internationaler Daten des World
Value Survey gewonnen hat.
World Value Survey 1984 - 2001
Auswertung Dominik Enste, iwd 13/2007
Der Vorteil von Religiosität in Hinblick auf die Reproduktion und also natürliche
Selektion ist statistisch nicht mehr von der Hand zu weisen. Für einige
Religionsgemeinschaften (wie die Amish, orthodoxen Juden etc.) existieren im
Übrigen auch gar keine Alternativthesen, die deren hohe Fruchtbarkeit ohne religiöse
Aspekte erklären könnten. Neben der Kinderzahl als dem wichtigsten Faktor wären
darüber hinaus gesundheitliche Aspekte (Speise-, Alkohol-, Sexual- und Zeitregeln,
medizinisches Rollenwissen, Zuversicht etc.) und der bereits von Darwin vermutete
Gruppenzusammenhalt (Vertrauen, Solidarität und Regeltreue, Speisung für „Witwen
und Waisen“ etc.) zu nennen.
Religionen wurden und werden leider nach wie vor häufig missbraucht, vor allem
wenn Religionsfreiheit und religiöser Wettbewerb eingeschränkt bleiben und also
keine Kontrolle der religiösen Institutionen durch Konkurrenten erfolgen kann. Aber
die Emergenz von verbindlicher Religiosität war kein „Unfall“ oder gar „Irrtum“ der
Evolution, sondern die Entfaltung einer lebensförderlichen Fähigkeit. Damit wir nicht
zu weit vom Text abkommen, sei hier für weitere Daten oder besonders interessante
Modelle wie das Zölibat auf weiterführende Lektüre verwiesen.
9
15
Genesis 38,11
Juda sprach zu seiner Schwiegertochter Tamar: „Bleibe als Witwe in deines Vaters
Haus, bis mein Sohn Schela erwachsen sein wird.“ Denn er dachte sich, er könnte
auch sterben, wie seine Brüder. Tamar ging und blieb in ihres Vaters Haus.
Nachdem der vorhergehende Vers die Frage nach der natürlichen Selektion geklärt
hat (der biblische Gott vertritt Regeln, die die Geburt von Kindern begünstigen), wird
nun die Frage nach der sexuellen Selektion aufgeworfen. Denn Juda handelt hier
„gut darwinistisch“: im Zweifelsfall geht ihm die Sicherheit der eigenen
Blutsverwandten über den Vertrag mit einer nichtverwandten Frau. Man beachte
dabei, dass auch hier Juda Tamar direkt anspricht und nicht etwa ihren Vater
auffordert, sie heim zu holen. Und es ist auch Tamar, die - wie wir sehen werden:
nicht naiv - Judas Zusage glaubt und (statt z.B. den Vertrag zu lösen und anderswo
nach einem Mann zu suchen, womit Juda doch einverstanden wäre!) mehrere Jahre
auf dessen Vertragseinlösung vertraut.
Genesis 38,12-14
Es verflossen viele Tage, da starb die Tochter des Schua, Judas Frau. Als Juda
getrauert hatte, gingen er und sein Freund Hira zur Schafschur nach Timna. Dieses
wurde Tamar berichtet. Man sagte ihr: „Dein Schwiegervater reist zur Schafschur
nach Timna.“ Da legte sie ihre Witwenkleider ab, bedeckte sich mit einem Schleier,
verhüllte sich und setzte sich an den Eingang von Enaim auf dem Weg nach Timna.
Denn sie sah, dass Schela erwachsen war und sie ihm nicht zur Frau gegeben war.
Nicht wenige moderne Bibelkommentare verweisen darauf, dass es sich bei der
Tamar-Geschichte um eine „spätere Einfügung“ handeln müsse - ihr Unwohlsein
angesichts des „skandalösen“ Kapitels kaum verbergend. Persönlich sehe ich den
Sachverhalt gerade anders herum: ich bewundere, dass (vorwiegend männliche!)
Überlieferer diese so klar für die Kanaaniterin Tamar sympathisierende Geschichte
über Jahrtausende mündlich und schriftlich beibehalten und nicht einfach
„vergessen“ und damit getilgt haben.
Tamar & Juda
Bild: Horace Vernet, 1840
16
Wir können heute wahrscheinlich nur erahnen, welche atemlose Stille in Zelten und
an Feuern geherrscht haben mag und wie viele Ohren (gerade auch stolzer
Patriarchen und Nachkommen Judas) geglüht haben mögen, wann immer dieses
Kapitel erzählt oder verlesen wurde. Es seien nur wenige Aspekte genannt, die
damaligen Zuhörern in den Ohren geklungen haben müssen:
- Wieder wird die Frau des Juda nur als Tochter ihres Vaters, ohne eigenen Namen,
vorgestellt. Die Heldin der Geschichte ist die junge und fremde Schwiegertochter, die
stark und selbständig ebenso kreative wie „skandalöse“ Entscheidungen trifft, um ihr
Recht einzufordern - und damit zum Werkzeug des biblischen Gottes wird!
- Die „Schafschur“ hatte für Nomaden eine ähnliche Funktion wie der
Freigängerhafen für Seefahrer: oft nach Monaten relativer oder absoluter Isolation in
Kleingruppen kam man hier zusammen und erhielt den Lohn für die lange Arbeit (die
Heuer bzw. den Verkaufserlös der Wolle). Entsprechend traf lange aufgestaute
Nachfrage nach allerhand Gütern auf frisch erworbene Tausch- oder gar Geldmittel.
Zumal Juda eine Trauerzeit hinter sich hat, weiß Tamar lebensklug, auf welche
männliche Nachfrage sie kalkulieren kann. Dabei merkt der Text geradezu
selbstverständlich an, dass sie selbst all die Jahre hindurch sexuelle Treue gehalten
und ihren Witwenstatus durch Kleidung signalisiert hat. Korreliert diese Konstellation
und auch das Bild nicht trefflich mit der darwinschen Schlüsselbeobachtung zur
sexuellen Selektion: „Das Ausüben einer gewissen Wahl von Seiten des Weibchens
scheint ein fast so allgemeines Gesetz wie die Begierde des Männchens zu sein.“
10
?
- Die Verse erlauben sich sogar noch ein tiefsinniges Wortspiel, das hebräische
Zuhörer über Jahrhunderte zum Schmunzeln (oder Erröten) gebracht haben dürfte.
„Eingang von Enajim“ entspricht hebräisch wörtlich der „Öffnung der Augen“. Juda
werden hier die Augen geöffnet. Und mehr noch: der Ausdruck korrespondiert direkt
mit hebräisch „kesut enajim“ - „Augen verhüllend“, aus Genesis 20,16. Denn in
diesem Vers musste ebenfalls ein Mann, König Abimelech, die Rechte einer Frau
teuer wiederherstellen, nachdem er Saras (auch sexuelle) Selbstbestimmung
ignoriert hatte - sein Geschenk von tausend Silberstücken soll „allen Leuten die
Augen verhüllen“, die Ehre wiederherstellen.
11
Es ist also nicht zu überhören, dass die Sympathien des biblischen Gottes an dieser
Stelle nicht den Patriarchen gehören…
Genesis 38,16-19
Er ging vom Wege ab zu ihr und sprach: „Erlaube, dass ich mit dir schlafe.“ Denn er
wusste nicht, dass es seine Schwiegertochter war. Sie sprach: „Was willst du mir
geben, wenn du mir beiwohnst?“ Er sprach: „Ich will einen Ziegenbock von der Herde
senden.“ Sie antwortete: „Einverstanden, wenn du ein Pfand gibst.“ Er fragte: „Was
für ein Pfand soll ich dir geben?“ Sie antwortete: „Deinen Siegelring, dein Tuch und
den Stab, den du in der Hand hast.“ Er gab es ihr, wohnte ihr bei, und sie ward von
ihm schwanger. Sie machte sich auf, ging davon, legte ihren Schleier ab, und zog
wieder ihre Witwenkleider an.
Hier erreicht das Kapitel in mehr als einer Hinsicht einen dramatischen Höhepunkt.
Juda kommt vom Wege ab, indem er versucht, Sexualität und die aus ihr
resultierende Verantwortung voneinander zu entkoppeln. Sein Angebot eines
Ziegenbockes ist dabei -jedem damaligen Zuhörer völlig präsent!- eine freudianische