Mitteleuropa zwischen Ost und West Kosmische und menschliche Geschichte Sechster Band



Yüklə 0,84 Mb.
səhifə17/23
tarix01.08.2018
ölçüsü0,84 Mb.
#60482
1   ...   13   14   15   16   17   18   19   20   ...   23

Das ist ein triviales Beispiel, das Ihnen aber zeigt, wie das Denken gegenüber Gelesenem nicht aufwacht. Ich habe dieses Beispiel gewählt, erstens wegen seiner Alltäglichkeit, und zweitens, weil ja selbstverständlich unter den hier Anwesenden niemand ist, der diesen Gedanken nicht hätte, daß es auch wohl dem Pöhlmann nicht gelungen ist, die Million zu bekommen. Selbstverständlich, jene, die auf eine solche Annonce hereinfallen würden, sind alle draußen, und aus einer gewissen Höflichkeit erwähne ich kein Beispiel, auf das irgendeiner der Anwesenden hereinfallen könnte! Was ich aber sagen will, ist, daß es in zahllosen Fällen des Lebens von morgens bis abends fortwährend vorkommt, daß der Mensch diese Dinge liest. Man sagt, man achte gar nicht darauf. Man achtet nicht darauf. Ich habe neulich einmal eine

Rede gelesen, da kam der Satz vor: «Unsere Verbindung mit einem bestimmten Reiche ist der Kernpunkt, welcher unserer Politik in der Zukunft die Richtung geben muß.» Stellen Sie sich ein so konstruiertes Denken vor: eine Verbindung ist ein Kernpunkt, der zu einer Richtung wird! Wer so denkt, ist in der Lage, allerlei zu behandeln und zu tun im Leben. Aber man merkt nicht, welche Zusammenhänge zwischen einem so verkrüppelten Denken und dem öffentlichen Leben sind.

Man hat aber heute nötig, auf die Unwachsamkeit des Denkens, die gerade ein Kennzeichen unserer Kultur ist, einzugehen, gerade auf diese Unwachsamkeit des Denkens zu achten. Vollziehbare Gedanken: das ist das erste Erfordernis, wenn man achten können will auf so etwas wie die Offenbarungen des Augenblickes von Einschlafen und Aufwachen.

Ich nahm einmal an der Vorlesung eines sehr berühmten Literaturhistorikers teil. Es war seine Antrittsvorlesung, und er gab sich sehr viel Mühe. Da hatte er alle möglichen literarhistorischen Fragen formuliert und zum Schlüsse sagte er: Also, meine Herren, Sie sehen, ich habe Sie in einen Wald von Fragezeichen geführt! — Ich mußte mir dazumal vorstellen: einen Wald von Fragezeichen! Denken Sie sich einmal: ein Wald von Fragezeichen!

Wer gewöhnt ist, die Vorstellungen zu vollziehen, die sich in ihm bilden, wer also Wachsamkeit in seinem Denken entwickelt, der nur ist vorbereitet, auch zu achten auf solche Dinge wie die Augenblicke des Aufwachens und des Einschlafens. Was aber nicht wahrgenommen wird, das ist doch da. Und der Verkehr des Menschen mit den Toten ist da, und er ist insbesondere rege im Moment des Einschlafens und des Aufwachens. Im Grunde genommen stellt jeder Mensch im Momente des Einschlafens unzählige Fragen und gibt unzählige Mitteilungen an geliebte Tote, und empfängt Kundschaften und Antworten im Momente des Aufwachens von den Toten. Man kann aber in einer gewissen Weise, ich möchte sagen, kultivieren diesen Verkehr mit den Toten. Mancherlei Arten, den Verkehr mit den Toten zu kultivieren, haben wir ja öfter besprochen, aber wir wollen noch das Folgende heute sagen.

Es ist ein Unterschied, ob irgendein Gedanke, den wir in Verbin-

düng mit einem Toten haben, dazu führt, daß wir uns im Momente des Einschlafens an ihn richten können, oder ob er nicht dazu führt. Das ist ein gewisser Unterschied. Derjenige, welcher sich nicht einzig und allein in sinnlich-egoistischer Weise in das Leben hineinstellt, wird ja schon aus einem gesunden Empfinden heraus das Bedürfnis haben, den Verkehr nicht zu unterbrechen, den das Karma ihm gebracht hat mit gewissen Persönlichkeiten, die nun durch die Pforte des Todes vor kurzer oder vor längerer Zeit gegangen sind, und er wird wohl seine Gedanken öfter verbinden mit solchen hingegangenen Persönlichkeiten. Es kann durchaus sein, daß solche Gedanken, die wir anknüpfen an die Vorstellung dahingegangener Persönlichkeiten, einen richtigen Verkehr mit den Toten ergeben, auch wenn wir sie nicht kennen, auch wenn wir nicht achten können auf das, was im Momente des Einschlafens vor sich geht. Aber gewisse Gedanken sind günstiger für einen solchen Verkehr, andere Gedanken sind ungünstiger. Abstrakte Gedanken, Gedanken, die wir in einer gewissen Gleichgültigkeit, vielleicht gar nur aus Pflichtgefühl hegen, die sind wenig geeignet, im Momente des Einschlafens zu dem Toten hinüberzugehen. Dagegen Gedanken, Vorstellungen, welche hervorgehen aus dem Erfühlen eines besonderen Interesses, das uns vereinigt hat im Leben mit dem Toten, diese Gedanken sind geeignet, zum Toten hinüberzugehen. Erinnern wir uns an den Toten so, daß wir nicht bloß mit abstrakten Gedanken, mit kalten Vorstellungen an ihn denken, sondern einen Moment in unsere Seele rufen, wo wir an seiner Seite warm geworden sind, wo uns das, was er sagte, nicht nur Mitteilung war, sondern etwas Liebes war, erinnern wir uns eben derjenigen Momente, die wir mit dem Toten verbracht haben in einer Gefühlsgemeinschaft, in einer Gemeinschaft auch der Willensimpulse, erinnern wir uns solcher Momente, wo wir mit dem Toten zusammen dies oder jenes unternommen, beschlossen haben, was uns beiden wert ist, was uns beide geführt hat zu einer gemeinsamen Handlung, kurz, an irgend etwas, was die Herzen zusammenklingen ließ, machen wir dieses Zusammenklingen der Herzen lebendig, dann färbt das den Gedanken an den Toten so, daß der Gedanke zu ihm hinüberströmt im Momente des nächsten Einschlafens. Ob man diesen Gedanken um neun Uhr, um zwölf Uhr, um zwei Uhr hat, der

ganze Tag kann uns irgendwelche Zeit geben, um diesen Gedanken zu haben, er bleibt und geht im Momente des Einschlafens zum Toten.

Im Momente des Aufwachens können wir von dem Toten wieder Antwort, Mitteilung, Botschaften bekommen. Das braucht nicht gerade im Moment des Aufwachens, wenn man nicht darauf achten kann, an unsere Seele heranzutreten, sondern es kann im Laufe des Tages irgendwie aus unserer Seele heraufkommen in Form irgendeines Einfalles, wie wir glauben, wenn wir überhaupt an solche Dinge glauben. Aber auch da wiederum ist einiges günstiger, einiges ungünstiger. Unter gewissen Verhältnissen finden die Toten eher den Zugang zu unserer Seele, um uns dieses oder jenes in unsere Seele hereinzusprechen, so daß es in unserer Seele selbst spricht; in anderen Fällen sind die Verhältnisse für so etwas ungünstiger. Günstiger sind insbesondere die Verhältnisse, wenn wir eine gute, treffsichere Vorstellung von dem Wesen der Toten uns angeeignet haben, wenn wir so starkes Interesse an dem Wesen der Toten haben, daß uns dieses Wesen vor dem geistigen Auge wirklich gestanden hat. Sie werden sich fragen: Warum sagt er denn das eigentlich? Wenn einem jemand nahegestanden hat, so hat man doch eine Vorstellung von seinem Wesen! - Das glaube ich gar nicht, meine lieben Freunde, insbesondere nicht in unserer Zeit! In unserer Zeit gehen die Menschen aneinander vorüber und kennen einander sehr, sehr wenig. Das entfremdet einen vielleicht gar nicht für hier, für die physische Welt; das entfremdet einen aber gar sehr für die Welt, die der Tote durchlebt. Sehen Sie, für hier, für die physische Welt, sind zahlreiche unbewußte oder unterbewußte Kräfte und Impulse, welche die Menschen einander nahebringen, auch wenn sie sich nicht kennenlernen wollen. Es soll ja vorkommen im Leben, wie vielleicht manche von Ihnen schon gelesen haben, daß man schon Jahrzehnte verheiratet sein kann und sich sehr wenig wirklich kennenlernt. Aber da gibt es eben andere Impulse, die nicht auf der gegenseitigen Erkenntnis beruhen, die die Menschen zusammenführen. Das Leben ist überall durchsetzt von unterbewußten und unbewußten Impulsen. Aber wie gesagt, diese unterbewußten Impulse, sie binden uns hier, sie binden uns nicht mit den Wesen zusammen, die durch den Tod uns vorangegangen sind. Da ist es schon notwendig, daß wir wirklich etwas in die Seele auf-

nehmen, wodurch das Wesen des anderen lebendig in uns lebt. Und je lebendiger es in uns lebt, desto leichter hat es zu unserer Seele den Zugang, desto leichter kann es sich mit uns verständigen.

Das ist es, was ich Ihnen charakterisieren möchte über den fortdauernden, immer und immer vorkommenden Verkehr der sogenannten Lebenden mit den sogenannten Toten. Jeder von uns verkehrt fortwährend mit den sogenannten Toten, und daß es nicht gewußt wird, kommt nur daher, weil man nicht in genügender Weise beachten kann den Moment des Einschlafens, den Moment des Aufwachens. Ich sagte dieses, um Ihnen konkreter dieses Zusammensein mit der übersinnlichen Welt, in der die Toten sind, zu gestalten. Es wird sich uns noch konkreter gestalten, wenn wir einige andere Verhältnisse noch in Erwägung ziehen.

Es sterben jüngere Leute, es sterben ältere Leute. Und doch ist der Tod bei jüngeren Leuten, die dahinsterben, im Verhältnis zu den zurückbleibenden Lebenden etwas anderes als der Tod alter Leute, die dahinsterben. Über solche Dinge läßt sich ja wirklich nur reden, wenn man einzelne konkrete Verhältnisse auf diesen Gebieten ins Auge zu fassen vermag. Es ist durchaus nicht aus einer allgemeinen Wissenschaft heraus, daß ich das schildere, sondern ich fasse nur zusammen dasjenige, was in einzelnen konkreten Fällen wirklich vorgekommen ist. Wenn man mit dem schauenden Bewußtsein verfolgt, was geschieht, wenn Kinder ihren Eltern wegsterben, wenn junge Leute von ihren Angehörigen hinweg durch die Pforte des Todes gehen, und wenn man dann erkennen lernt, wie diese Seelen weiterleben, dann stellt sich diese Erkenntnis so dar, daß man sie in folgende Worte zusammenfassen möchte. Man muß sagen: Im Bewußtsein dieser durch die Pforte des Todes gegangenen jüngeren Leute lebt das, was man damit charakterisieren kann, daß man sagt: Sie sind eigentlich den Lebenden nicht verloren, sie bleiben da, sie bleiben in der Nähe, in der Wesenheit der Überlebenden. Sie trennen sich als jüngere Leute durch lange Zeit hindurch nicht von den Zurückgebliebenen, sie bleiben in ihrer Sphäre. -Von älter hingestorbenen Menschen, von Eltern zu Kindern und so weiter, kann man etwas anderes sagen. Diese Dinge sind vielleicht am besten, wenn man sie epigrammatisch ausdrückt. Von älter Hinge-

storbenen kann man sagen: Die Seelen dieser im späteren Leben hingestorbenen Menschen, die verlieren ihrerseits die Seelen derer, die zurückgeblieben sind, nicht. - Also, während die Zurückgebliebenen die jüngeren Seelen nicht verlieren, verlieren die älteren Leute, wenn sie durch die Pforte des Todes gegangen sind, diese, die dann auf der Erde sind, die Seelen der Zurückgebliebenen nicht, trotzdem diese anderen hier sind. Sie ziehen gewissermaßen dasjenige mit, was sie von uns haben wollen; sie haben von den hier gebliebenen Seelen alles leichter, was die Jüngeren nur haben können, wenn sie da bleiben. Das tun diese auch, sie bleiben mehr oder weniger in der Sphäre der Übriggebliebenen, die jüngeren Seelen.

Man kann diese Verhältnisse auf eine ganz bestimmte Weise studieren, so daß einem das, was ich jetzt gesagt habe, zur Gewißheit werden kann. Man muß natürlich diese Dinge mit dem schauenden Bewußtsein studieren. Und man kann mit dem schauenden Bewußtsein studieren die Trauer, den Trennungsschmerz. Trauer und Trennungsschmerz sind eigentlich zwei ganz verschiedenartige Zustände. Die Menschen wissen das nicht, aber wenn man in der Seele eines Menschen die Trauer, den Schmerz über ein hingestorbenes Kind beobachtet, so ist das ganz etwas anderes, als die Trauer und der Schmerz, den man beobachten kann, wenn ein älterer Mensch dahingestorben ist. Die Menschen wissen es nicht, aber es ist doch grundverschieden, wenn man es in der Seele als einen inneren Zustand beurteilt.

Das Merkwürdige ist dieses: Wenn, sagen wir, Eltern ihre früh gestorbenen Kinder betrauern, so ist dies eine Trauer, die eigentlich ihrem wirklichen Inhalte nach, ihrem tieferen Impulse nach, nur ein Reflex, ein Widerschein desjenigen ist, was das dagebliebene Kind hineinlebt in die Seele der Zurückgebliebenen. Das Kind ist dageblieben, und es empfindet, indem es dageblieben ist, allerlei, und das lebt sich hinein in die Seele des Zurückgebliebenen und erweckt da einen Impuls. Es ist ein Mitleidsschmerz, ein Mitgefühlsschmerz, es ist eigentlich der Schmerz oder das Leid des Kindes selber, den man in sich erlebt. Man schreibt ihn natürlich sich zu, den Schmerz, aber es ist ein Mitgefühlsschmerz. Sie müssen mich nicht mißverstehen - wir müssen ja diese Ausdrücke in vernünftiger Weise nehmen, nicht mit allerlei schlim-

men Nebendeutungen -, man könnte sagen: Wenn ein jüngerer Angehöriger einem dahinstirbt, so ist man von dem Schmerze aus dem eigenen Seelenleben des Dahingestorbenen heraus besessen, wenn auch in normaler Weise besessen, so daß es nicht schadet, er lebt in einem weiter, und was sich als Schmerz interpretiert, das ist sein Leben in uns.

Anders ist es bei der Trauer einem älteren Menschen gegenüber, der uns verlassen hat. Da tritt ein Schmerz ein, der nicht der Widerschein ist desjenigen, was in dem anderen lebt, denn der andere kann das wirklich hinaufbekommen, was in unserer Seele ist; er verliert uns nicht von sich aus. Wir können nicht von seinem Schmerz besessen sein, überhaupt nicht von seinen Empfindungen in dieser Weise besessen sein, denn er hat keine Sehnsucht danach, mit seinen Empfindungen in uns hineinzudringen, weil er uns ja mitzieht. Er verliert uns nicht. Deshalb ist dieser Schmerz, diese Trauer eine egoistische Trauer, ein egoistischer Schmerz. Das ist kein Tadel, es ist gewiß berechtigt, aber wir müssen diese beiden Arten der Trauer in ganz wesentlicher Art voneinander unterscheiden.

Wichtig wird die Sache dann, wenn man übergeht in der Betrachtung von der Beschreibung des Schmerzes oder des Zusammenlebens mit den dahingegangenen Toten zu den Toten selbst. Wenn das Verhältnis zu einem in jüngeren Jahren dahingegangenen Menschen ganz anders ist als das Verhältnis zu einem in späteren Jahren hingegangenen Menschen, dann wird es begreiflich sein, daß auch für die Pflege des Andenkens, für die Pflege des Gedächtnisses gegenüber den Toten in dem einen und dem anderen Falle es anders sein muß. Einem jüngeren Kinde gegenüber werden wir den richtigen Kultus, das richtige Gedächtnis haben, wenn wir darauf Rücksicht nehmen, daß das Kind dageblieben ist, daß das Kind mit uns lebt und sich besonders gerne einlebt in das, was hier uns möglich gewesen wäre, an das Kind heranzubringen, wenn das Kind hier geblieben wäre. Die Erfahrung zeigt, daß solche Kinder nach ihrem Tode besonders begehren, im Gedächtnis, in dem, was man ihnen entgegenbringt, allgemein menschliche Verhältnisse zu finden, auch im Totenkultus etwas zu finden, was mehr allgemeine Interessen darbietet, was wenig zu tun hat mit speziellen Interessen. Für Kinder, die dahingestorben sind, ist zum Beispiel die

katholische Totenfeier angemessener, wo ein allgemeiner Ritus ist, wo man einen Ritus hat, der für alle in gleicher Weise gilt. Ein dahingestorbenes Kind möchte eine Totenfeier haben, die mehr allgemeinmenschlich, die nicht für es allein, für es speziell ist, sondern die für alle sein könnte.

Für einen dahingestorbenen älteren Menschen ist die protestantische Totenfeier besser, wo man sich einläßt auf die besonderen Lebensverhältnisse, wo man eine Leichenrede hält, die sich auf seine speziellen individuellen Verhältnisse bezieht. Und will man das Andenken pflegen für einen solchen älteren Dahingestorbenen, dann ist es besonders günstig, sich an Einzelheiten des Lebens, die ihm eigen waren, an sein spezielles, an sein individuelles Leben anzuklammern und dort die Gedanken zu suchen, durch die man das Andenken des älter Dahingestorbenen feiert.

Sie sehen daraus, daß, richtig betrachtet, Geisteswissenschaft nicht bloß Theorie bleiben kann. Sie zeigt uns etwas über die Verhältnisse, die in der Welt sind, von der wir nur abgeschlossen sind, weil wir unsere Gefühle verträumen, unsere Willensimpulse verschlafen. Sie redet von den Welten, in denen wir mit Gefühl und Wille drinnen sind. Fassen wir mit genügender Intensität, mit rechter Energie die geisteswissenschaftlichen Vorstellungen, so bleiben sie nicht Vorstellungen, so wirken sie auf Gefühl und Wille. Denken Sie, wie befruchtend auf das Leben diese geisteswissenschaftlichen Vorstellungen wirken können! Geistliche, die den Totenkultus zu leiten haben, werden die richtige Art, den richtigen Takt für diesen Totenkultus in ganz anderer Weise finden, als wenn man bei der bloßen abstrakten Theologie bleibt.

Nun ist dies ja wirklich kein Wunder, da die Welt, von der die Geisteswissenschaft redet, die wirkliche Welt ist, in der unsere Gefühle, unsere Willensimpulse leben, so daß, was sie zu geben vermag, auch wiederum in Gefühl und Wille hineinspielt. In das Gefühl spielt sie hinein - aber überall sonst auch -, wenn wir zum Beispiel unsere Gefühle den Toten gegenüber entwickeln. Doch auch in die Willensimpulse soll sie hineinspielen. Das sollte insbesondere in unserer Zeit bedacht werden. Denn wenn man nachgehen würde den Willensimpulsen der Menschen unserer Zeit, man würde auf nicht sehr tiefe Unter-

gründe der menschlichen Seele stoßen. Das ist gerade das Eigentümliche unserer Zeit, daß die Menschheit nötig hat, für ihren Willen geistige Impulse zu suchen. Und das ist das Tragische der gegenwärtigen Zeit, daß man bisher nicht entschlossen ist, sie zu suchen. Erlösung aus den Wirren unserer Zeit wird es nur geben, wenn man aus dem Geiste heraus Impulse für das äußere Leben wird suchen wollen. Das weisen in weitesten Kreisen, wie ich heute abend schon gesagt habe, die Menschen heute noch zurück. Sie werden es lernen müssen, denn diese Zeit wird für das Geschlecht, das sie zu durchmessen hat, in noch viel reicherem Maße der große Lehrmeister werden, als es schon der Fall gewesen ist.

An diese heute gegebenen, mehr auf das einzelne Persönliche bezüglichen Begriffe wollen wir dann am nächsten Sonntag vormittag anknüpfen, um gerade mit Bezug auf die gegenwärtigen Zeitverhältnisse, aber in rechtem geisteswissenschaftlichem Sinn, zu sprechen.

ZEHNTER VORTRAG

München, 17. Februar 1918

Es wird heute meine Aufgabe sein, von den Grundlagen geistiger Betrachtungsweise, die wir neulich hier gepflogen haben, überzugehen zu solchen geistigen Vorgängen, welche in einer gewissen Beziehung unmittelbar hinter unserem, uns so schwer in die Seele hereinsprechenden Zeitleben liegen.

Es ist ja, wie Sie sich denken können, in demjenigen, was wir im Sinne unserer Geisteswissenschaft das Zusammenleben mit den Kräften nennen, die von den sogenannten Toten hereinströmen in das Reich, in dem wir selber sind während unserer Inkarnation, es ist in diesem Zusammenleben zu gleicher Zeit mit aller Lebendigkeit zu beobachten, was gerade geistig einer so schweren Zeit zugrunde liegen kann. Nun suchen allerdings die Menschen der Gegenwart wenig nach den geistigen Hintergründen des Daseins. Dieses Nichtsuchen nach den geistigen Hintergründen des Daseins hängt viel enger, als man eigentlich denkt, damit zusammen, daß diese schwere Katastrophe über die Menschheit in der Gegenwart hereingebrochen ist. Ich habe darauf aufmerksam gemacht, daß in der Zeit, die als das letzte Drittel des 19. Jahrhunderts bezeichnet werden kann, gegenüber früheren Zeitläufen für das Ganze der menschlichen Entwickelung große, umfassende Veränderungen sich vollzogen haben. Ich habe wiederholt hingewiesen auf das Ende der siebziger Jahre, habe darauf hingewiesen, daß das Ende der siebziger Jahre einen bedeutsamen Einschnitt in der Entwickelung der Menschheit bedeutet. Man muß zugeben, daß die wenigsten Menschen in der Gegenwart sehen, wie grundverschieden das geistige Leben seit dem Ende der siebziger Jahre von dem ist, was vorangegangen ist. Ich mochte sagen: Die Menschen haben, um dies zu sehen, viel zu wenig Distanz gewonnen. - Man kann ja so etwas nur dann sehen, wenn man es in seinen Unterschieden, in seiner Differenzierung beobachten kann, wenn man nicht unmittelbar in der Sache drinnensteht, sondern einen gewissen Abstand davon gewonnen hat. Dieser Abstand muß allerdings, wenn die Menschheit nicht einem noch größeren Elend

entgegensehen soll, von dieser Menschheit möglichst bald gewonnen werden. Denn es herrscht in unserer Gegenwart, geistig betrachtet, ein ganz merkwürdiger, wirklich lebendiger Widerspruch. Und indem ich diesen Widerspruch so bezeichne, werden Sie eigentlich ihn außerordentlich grotesk finden: Es war keine Zeit in der Menschheitsentwickelung, die geschichtlich verfolgt werden kann, so spirituell wie die Zeit, in der wir leben, die Zeit seit dem Ende der siebziger Jahre. Wir leben, geschichtlich betrachtet, in der allerspirituellsten Zeit. Und wir leben doch - was unleugbar ist - so, daß sehr viele Menschen, die gerade vermeinen, recht spirituell zu sein, glauben können, die Zeit wäre ganz materialistisch. Sehen Sie, materialistisch dem Leben nach ist unsere Zeit nicht; dem Glauben vieler Menschen nach, und dem nach, was aus diesem Glauben vieler Menschen fließt, ist unsere Zeit ja gewiß materialistisch. Was meint man eigentlich damit, wenn man sagt, unsere Zeit sei spirituell?

Ja, wir haben zunächst eine naturwissenschaftliche Weltbetrachtung: gegenüber dieser naturwissenschaftlichen Weltbetrachtung ist alles frühere an naturwissenschaftlicher Weltbetrachtung materialistisch! Wir haben nämlich eine solche naturwissenschaftliche Weltbetrachtung, welche zu den feinsten, durchgeistigtsten Begriffen sich aufschwingt. Das merkt am besten derjenige, welcher das Dasein über die unmittelbare physische Gegenwart hinaus sieht.

Von den meisten Vorstellungen, die heute im spirituellen Sinne gut gemeint sind, haben die sogenannten Toten außerordentlich wenig, die sogenannten Toten. Von den naturwissenschaftlichen Vorstellungen in der Gegenwart, wenn sie unbefangen nachgedacht werden, haben sie außerordentlich viel. Und interessant ist es, daß der sogenannte materialistische Darwinismus gerade im Reiche der Toten ganz spirituell aufgefaßt und auch angewandt wird. Die Dinge nehmen sich im Leben eben ganz anders aus, als sie sich oftmals ausnehmen in dem Glauben, in dem oft sehr irrtümlichen Glauben, der herbeigeführt wird durch das, was die Menschen hier im Leibe erleben. Was meine ich eigentlich, wenn ich zunächst auf das naturwissenschaftlich Spirituelle hinweise? Ja, sehen Sie, um diese Begriffe auszubilden, um sich aufzuschwingen zu solchen Gedanken, wie man sie heute über die Entwicke-

lung und so weiter hat, dazu gehört eine Geistigkeit, die nicht vorhanden war in früheren Zeiten. Es ist viel leichter, Gespenster zu sehen und sie für Geistiges zu halten, als fein ausziselierte Begriffe über dasjenige auszubilden, was scheinbar materiell nur ist. Dies hat bewirkt, daß die Menschen in ihrem Seelenleben die durchgeistigtsten Begriffe ausbilden und diese durchgeistigten Begriffe verleugnen. Sie dichten diesen durchgeistigten Begriffen an, daß sie nur über Materielles etwas aussagen dürften. Die materialistische Interpretation unserer naturwissenschaftlichen Weltanschauung ist nichts anderes als eine Verleumdung des eigentlichen Charakters der naturwissenschaftlichen Weltanschauung. Sie ist hervorgegangen aus einem Hang, der im Grunde genommen Feigheit ist! Man bringt es nicht dazu, mit seinem lebendigen Empfinden bei den fein durchgeistigten Begriffen zu leben, die Geistigkeit in solcher — wenn ich mich so ausdrücken darf — Verdünnung zu erfassen, wie sie erfaßt werden muß, wenn man reinliche Begriffe über die Natur sich ausbildet. Man getraut sich nicht zu gestehen, daß man im Geistigen lebt, im Geiste lebt, wenn man solche verdünnten, vergeistigten Begriffe hat, und deshalb lügt man sich an, indem man sagt: Diese Begriffe bedeuten nur Materielles -, was nicht wahr ist, was nur ein Selbstbelügen ist. Und so ist es auch auf anderen Gebieten des Lebens. Man kann darauf hinweisen - ich habe es auch vorgestern getan -, daß zum Beispiel für manches künstlerische Schaffen in der Gegenwart nur durch das spiritualisierte, verfeinerte Empfinden Werte zutage getreten sind, die frühere Kunstentwicke-lungs-Epochen gar nicht gehabt haben. Es ist ganz zweifellos, daß heute manches zutage tritt auf dem Gebiete des künstlerischen Schaffens, das man vergebens bei Raffael oder Michelangelo suchen würde. Dieser Umschwung im geistigen Leben ist herbeigeführt worden durch ein ganz bestimmtes geistiges Ereignis. Und dieses geistige Ereignis möchte ich heute von gewissen Gesichtspunkten aus wiederum vor Ihnen charakterisieren.

Als die Mitte des 19. Jahrhunderts noch nicht ganz herangekommen war, so im Beginn der vierziger Jahre des 19. Jahrhunderts, da schickte sich eine gewisse geistige Wesenheit an - die Namen tun nichts zur Sache, um aber einen Namen zu haben, kann man den der christlichen


Yüklə 0,84 Mb.

Dostları ilə paylaş:
1   ...   13   14   15   16   17   18   19   20   ...   23




Verilənlər bazası müəlliflik hüququ ilə müdafiə olunur ©genderi.org 2024
rəhbərliyinə müraciət

    Ana səhifə